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Streit und ein Verkehrsexperiment in Brüssel

Wie Experten Vorrangszonen und Tempolimits bewerten

Uwe Schimunek, Freier Journalist Quelle: Meinungsbarometer.info Uwe Schimunek Freier Journalist Meinungsbarometer.info 04.08.2020

Zunächst ging es nur um die Abstandsregeln in der Corona-Krise. Die Stadt Brüssel hat in der Innenstadt eine Vorrangzone für Radfahrer und Fußgänger eingerichtet - mit Tempo 20 und Bewegungsfreiheit für Fußgänger und Radfahrer. Darüber hinaus ist nach einer Testphase Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet geplant.

Die Corona-initiierte Verkehrswende in der Stadt Brüssel hat eine heftige Debatte ausgelöst. Die Herausforderungen der Corona-Krise lassen sich aus Sicht von Stefan Gerwens, Leiter Verkehr beim ADAC, nicht durch Geschwindigkeitsbegrenzungen lösen. Er nennt das Beispiel der Fußgängerzonen: „Dort sind zwar alle nur in Schrittgeschwindigkeit unterwegs, aber es gibt häufig doch keine Möglichkeit, einander auszuweichen.“ Tempo 20 sei zudem flächendeckend innerorts mit Vorrang für Fußgänger und Radfahrer aus verkehrsplanerischer und verkehrsrechtlicher Sicht für deutsche Städte nicht sinnvoll. „Wir haben hierzulande bereits ein gut abgestuftes Instrumentarium zur Verkehrsberuhigung – vom verkehrsberuhigten Bereich mit Schrittgeschwindigkeit über den verkehrsberuhigten Geschäftsbereich bis hin zu Tempo 30-Zonen.“ Dieses habe sich bewährt und kann örtlich differenziert eingesetzt werden.

Für FUSS-e.V.-Sprecher Roland Stimpel bringt Tempo 20 dagegen einen enormen Gewinn an Sicherheit. „Tödliche Fußgänger- und Radfahrerunfälle gibt es damit kaum noch. 20 bringt engen, stark genutzten Verkehrsräumen höchste Leistungsfähigkeit und Effizienz.“ Schließlich müssten nur noch geringe Abstände zwischen Fahrzeugen eingehalten werden, die meisten zeitraubenden Ampeln können abgeschafft werden und schlanke, platzsparende Verkehrsmittel erhielten beste Bedingungen.

Gerrit Reichel vom ACV möchte nicht, dass die Autos einfach aus bestimmten Zonen ausgesperrt werden, damit Radfahrer mehr Platz haben. Entscheidend sei vielmehr, neue Angebote zu schaffen, die als echter Anreiz, als Verbesserung wahrgenommen werden. Er verweist auf Studien wie der Fahrrad-Monitor Deutschland 2019 des BMVI: „Viele Menschen haben einfach keine Lust Rad zu fahren, speziell bei schlechtem Wetter.“ Um die Menschen fürs Rad zu begeistern, bräuchte es zudem nicht nur neue, breitere Radwege sondern beispielsweise auch ausreichende Abstellanlagen. Außerdem sollten die Verkehrsmittel gut vernetzt sein. Man brauche auch neue Verbindungen und eine schnellere Taktung bei Bussen und Bahnen.

Am Beispiel von Frankfurt am Main zeigt sich aus Sicht des Verkehrsjuristen Herbert Engelmohr vom AvD, wie stark Einwohner, Pendler, Unternehmen sowie Dienstleister und Handel auf eine funktionsfähige Verkehrsinfrastruktur angewiesen seien. „Die Bedürfnisse dieser großen Anzahl von Arbeits- und Fachkräften in den Städten und vor allem außerhalb sind einzubeziehen, was nicht passiert, wenn man einseitig auf nichtmotorisierte Verkehre fokussiert.“ Dr. Michael Haberland, Präsident Mobil in Deutschland e.V. beklagt, schon heute werde der Platz für den Hauptverkehrsträger in Deutschland, das Auto, konsequent verringert. „Dass Fahrräder das Verkehrsaufkommen in Städten bewältigen könnten, ist ein grünes Wunschdenken, welches im Chaos enden wird.“

In der Schweiz, darauf verweist Christoph Merkli, Geschäftsführer von Pro Velo Schweiz, gibt es mit den Begegnungszonen seit 2002 ein ähnliches Modell wie Brüssel. Diese seien inzwischen in der Schweiz weit verbreitet und eigneten sich sowohl für dichte Stadtzentren wie für Wohngebiete. „Für den Fahrradverkehr braucht es dennoch zusätzliche Achsen, auf denen schneller gefahren werden kann. Das Fahrradnetz muss als Ganzes geplant und umgesetzt werden.“ Dr. Monika Litscher, Geschäftsleiterin beim Fachverband Fussverkehr Schweiz, unterstreicht insbesondere die größere Lebensqualität in solchen Begegnungszonen nicht zuletzt für vulnerable Personen, denen in der Corona-Krise „die soziale Teilhabe für zwei Monate aus gesundheitlichen und systemischen Gründen verwehrt worden ist“.

Michael Rytz vom VCS Verkehrs-Club der Schweiz ergänzt: „In Verbindung mit einer sorgfältigen Planung und baulichen Maßnahmen haben sich diese Zonen bewährt“, betont der Experte. Für eine Beurteilung des Brüsseler Modells möchte die angekündigte Evaluation abwarten und ein paar Fragen beantwortet wissen: „Wurden die Tempolimiten eingehalten? Wie haben sich die neuen Verkehrsregeln zwischen zu Fuß Gehenden, Velofahrenden und Autolenkenden eingespielt?"

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