Die Stadt Brüssel hat in der Innenstadt eine Vorrangzone für Radfahrer und Fußgänger eingerichtet - mit Tempo 20 und Bewegungsfreiheit für Fußgänger und Radfahrer. Kann das Modell als Vorbild für den Innenstadt-Verkehr dienen?
Die Fixierung alleine auf Fußgänger und Radfahrer löst kein einziges Problem des Stadtverkehrs. Nach einer Studie des BMVI werden mit dem Fahrrad in Deutschland lediglich 3,8% der Personenkilometer zurückgelegt.* Am Beispiel von Frankfurt am Main, dem Sitz des Automobilclub von Deutschland (AvD), zeigt sich, wie stark Einwohner, Pendler, Unternehmen sowie Dienstleister und Handel auf eine funktionsfähige Verkehrsinfrastruktur angewiesen sind. Die „Pendlerhauptstadt Deutschlands“ ist tagsüber eine Millionenstadt. Die Bedürfnisse dieser großen Anzahl von Arbeits- und Fachkräften in den Städten und vor allem außerhalb sind einzubeziehen, was nicht passiert, wenn man einseitig auf nichtmotorisierte Verkehre fokussiert.
Was ist mit Senioren und Personen mit eingeschränkter Mobilität? Angesichts des stetig wachsenden Seniorenanteils an der Bevölkerung ist es von Relevanz, ob ein alter Mensch mit seinem Rollator auf den ÖPNV angewiesen ist, oder ein/sein Kfz nutzen kann.
Auch wegen des unzureichenden Angebots des ÖPNV am Rande der Stadtzentren sind Pendler weiterhin auf ihre Autos angewiesen. Zudem benötigen Wirtschaftsverkehre die Transportkapazitäten, wie sie ausschließlich motorisierte Fahrzeuge zur Verfügung stellen. Fahrspuren alleine dem Radverkehr zur Verfügung zu stellen, stößt bei schlechten Witterungsverhältnissen schnell an seine Grenzen: Kaum jemand wird seine täglichen Wege, besonders über größere Strecken dann zu Fuß oder Rad zurücklegen. Im Übrigen sind Busse und Bahnen auf Jahre nicht in der Lage, entsprechende Angebotsausweitungen zur Verfügung zu stellen. Selbstverständlich benötigen Innenstädte schon aufgrund des begrenzten Raums und limitierten Kapazitäten eine enge Verzahnung von individuellen und öffentlichen Verkehren. In Zukunft wird es immer mehr darauf ankommen, die unterschiedlichen Verkehrsarten den vorhandenen Straßenraum gemeinsam nutzen zu lassen, um einen reibungslosen Verkehr zu ermöglichen. Perspektivisch ist es notwendig, Mobilität und Verkehr strategisch und ganzheitlich zu planen.
Dabei müssen Potentiale für Verbesserungen erkannt und die zur Verfügung stehenden Ressourcen besser genutzt werden – lokal wie regional. Dazu gehören z. B. Schnellfahrspuren, Parkraumflächen für Anwohner und ansässigen Unternehmen ebenso wie Park-and-Ride-Angebote für den ÖPNV. Für Lieferverkehre und Handwerksverkehre in den Innenstädten sind Konzepte nötig. Wie etwa temporäre oder dauerhafte Lieferzonen, Mikrodepots in Stadteilen und vieles mehr.
Gerade mit Blick auf die Erfahrungen aus den Beschränkungen in Zeiten der Pandemie intensivieren sich Diskussionen zur Anpassung grundsätzlicher Planungen der Stadtbebauung. Die Sinnhaftigkeit, Bürohochhäuser mit mehreren hundert oder gar tausend Arbeitsplätzen im Stadtzentrum anzusiedeln, statt in den Randbezirken, wird gerade in Frage gestellt.
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Zunächst soll es mit dem Modell leichter werden, die Abstandsregeln in der Corona-Krise einzuhalten. Was spricht über die Krise hinaus für eine solche Vorrangzone - und was dagegen?
Man sollte nach Meinung des AvD vorsichtig sein bei der dauerhaften Zuweisung von Verkehrsflächen an bestimmte Gruppen von Verkehrsteilnehmern. (Auch deshalb, weil bei der Fahrradnutzung deutliche jahreszeitliche Schwankungen zu beobachten sind). Die eben angesprochenen Lieferzonen sind auch Vorrangzonen in diesem Sinne, werden aber nur temporär genutzt, genauso wie E-Kfz an städtischen Ladesäulen während des Ladevorgangs dort stehen dürfen. Dauerhafte Vergabe sind nur im Einzelfall berechtigt, etwa bei Parkbevorrechtigungen für behinderte Menschen mit ihren Kraftfahrzeugen. Der in Innenstädten knappe Raum wird von allen Verkehrsteilnehmern benötigt und sollte deshalb unter Berücksichtigung von Raumbedarf und Nutzung nach nachvollziehbaren Kriterien in Übereinstimmung mit den Verkehrsregeln allgemein verteilt werden.
Eine Innenstadt mit vielfältigen Angeboten von Einzelhandel, über Hotel- und Gastronomiegewerbe sowie Dienstleistungsunternehmen ist ein zentraler Lagevorteil und demnach auf Kunden (und Mitarbeiter) auch außerhalb der Kernstadt angewiesen. Die angesprochenen Vorrangzonen laufen auf eine autofreie Innenstadt hinaus, die die Bedürfnisse von allen Einpendlern, seien es Kunden, Arbeitnehmer, Dienstleister oder Touristen an die Erreichbarkeit von Städten außen vor lassen. Es geht auch hier darum verschiedenste Interessen zu berücksichtigen und nicht gegeneinander auszuspielen.
Nach einer Testphase soll im gesamten Stadtgebiet nur noch Tempo 30 gelten. Wie bewerten Sie das?
Der AvD spricht sich für Tempo 30 dort aus, wo es Mensch und Umwelt nützt. Das ist nicht undifferenziert im gesamten Stadtgebiet sinnvoll. Bei großflächiger Ausdehnung von Tempo-30-Zonen auf innerstädtischen Hauptstraßen drohen erhöhte Schadstoff-Emissionen durch den Stop- and Go-Verkehr, der zu erhöhten Lärm- und Abgas-Emissionen führt. Der AvD fordert, Tempobeschränkungen auch auf das zeitlich notwendige und mögliche Maß zu begrenzen: beispielsweise keine 24-Stunden-Geltung von Tempo-30 vor Schulen, sondern nur während deren Öffnungszeiten.
Die Anordnung von Tempo-30 bzw. Tempo-30-Zonen sollte von baulichen Maßnahmen flankiert sein etwa durch direkte Zuwege zu den schützenswerten Einrichtungen, farbigen Fahrbahnbelag mit und ohne Markierungen.
Welche Vor- und Nachteile haben Tempolimits und Vorrangzonen für einen vernetzten digitalen Mix der individuellen Verkehrsmittel der Zukunft?
Vor hektischem Aktionismus bei Einführung vermeintlicher verkehrlicher Allheilmittel sollten immer genaue Zielvorstellungen formuliert und deren Sinnhaftigkeit mit allen Interessengruppen offen diskutiert werden. Es dürfen nicht allein die Mobilitätsbedürfnisse von Anwohnern bedient werden, die sich das Wohnen in der Innenstadt finanziell leisten können und die sich für ihre Wohnsituation auch „sehenden Auges“ entschieden haben. Vor dem Hintergrund der weiter steigenden Wohnungskosten in den Städten ist das eine nicht gerechtfertigte Bevorteilung von finanziell bessergestellten Milieus, bei gleichzeitiger Diskriminierung von Familien und Menschen mit geringen Einkommen.
Es müssen auch die Verkehre von Pendlern, Dienstleistern, Handwerkern, des Handels und der Konsumenten – sowie mancherorts auch Touristen – beachtet werden. Dabei spielt auch die reibungslose An- und Ablieferung von Waren und Gütern eine Rolle. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Gastronomie, Kultur und Freizeit sind Faktoren, die Innenstädte attraktiv machen. Eine gute Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Auto, dem Reisebus, per Fahrrad und zu Fuß sollte aus Sicht des AvD im Fokus eines jeden Konzeptes sein. Verschiedene Mobilitätsformen sowie Parkplatzangebote sind immer zu berücksichtigen und mit einzubeziehen.
Eine Innenstadt sollte nach der Überzeugung des AvD immer auch mit dem eigenen Kraftfahrzeug erreichbar sein, andernfalls fehlt Innenstädten ein entscheidender Attraktivitätsfaktor. Wichtig ist daneben natürlich auch, dort die Leistungsfähigkeit des ÖPNV zu erhöhen, was massive und stetige Investitionen in die Infrastruktur von Straße und Schiene beinhaltet.
Aus den genannten Gründen ist eine Verkürzung der Diskussion auf Tempolimits und Vorrangzonen in keinster Weise geeignet, den Anforderungen an eine modernen Verkehrs- und Mobilitätspolitik zu genügen.
* (4) Mobilität in Deutschland: „Analyse zum Rad- und Fußverkehr“ (2017) https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/G/mid-analysen-rad-fussverkehr.pdf?__blob=publicationFile