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Interview17.06.2020

Aktive Mobilität in der kommunalen Politik priorisieren

Wie der Verkehrsraum aus Sicht von Fußverkehr Schweiz neu aufgeteilt werden sollte

Dr. Monika Litscher - Geschäftsleiterin, Fussverkehr Schweiz | Fachverband der Fussgängerinnen und Fussgänger Quelle: Flurin Bertschinger Dr. Monika Litscher Geschäftsleiterin Fussverkehr Schweiz
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Uwe Schimunek
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info
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"Mobilität ist einer der zentralen Faktoren, der zu Lebensqualität für Menschen führt oder eben auch nicht", stellt die Geschäftleiterin des Fachverbandes Fussverkehr Schweiz, Dr. Monika Litscher fest. Die Kulturwissenschaftlerin, Ethnologin und Stadtforscherin fordert eine "Transformation hin zu einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Mobilität, die sich von der jahrzehnte- oder inzwischen fast jahrhundertlangen unhinterfragten Priorisierung des Autos verabschiedet".





Die Stadt Brüssel hat in der Innenstadt eine Vorrangzone für Radfahrer und Fußgänger eingerichtet - mit Tempo 20 und Bewegungsfreiheit für Fußgänger und Radfahrer. Kann das Modell als Vorbild für den Innenstadt-Verkehr auch anderswo dienen?
Es ist sehr erfreulich, dass die Stadt Brüssel in der Innenstadt eine Begegnungszone und damit Vorrang für Radfahrer und Zufussgehende errichtet. Fundiertes Wissen zu den vielen Vorteilen einer städtischen Infrastruktur, die aktive Bewegung und das menschliche Mass ermöglichen, ist seit Langem bekannt. Die Priorisierung der aktiven Mobilität ist und muss heute für jede kommunale Politik gelten, wenn sie ihre Rolle und ihre Verpflichtung bei der Herstellung der öffentlichen Strassenräume für alle wahrnehmen will. Eine Hinwendung zur aktiven Mobilität ist dabei immer als ein kultureller Prozess zu verstehen, der massgeblich zum ökologischen, ökonomischen, sozialen und gesundheitlichen Nutzen beiträgt. Dieser Prozess kann durch Technologie unterstützt werden und trägt darüber hinaus zum urbanen Flair bei. Mobilität ist einer der zentralen Faktoren, der zu Lebensqualität für Menschen führt oder eben auch nicht. Eine Transformation hin zu einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Mobilität, die sich von der jahrzehnte- oder inzwischen fast jahrhundertlangen unhinterfragten Priorisierung des Autos verabschiedet, muss daher ein Vorbild sein.

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Zunächst soll es mit dem Modell leichter werden, die Abstandsregeln in der Corona-Krise einzuhalten. Was spricht über die Krise hinaus für eine solche Vorrangzone - und was dagegen?
Die Pandemie zeigt uns deutlich den geringen Stellenwert, den wir den Zufussgehenden und den Velofahrenden im Verkehrssystem und somit im Stadtraum zugestehen. Der Handlungsbedarf offenbart sich vor allem in dichtgebauten Städten. Engmaschige, direkte, sichere, attraktive und hindernisfreie Verkehrswegnetze für Zufussgehende werden von Fachverbänden seit Langem gefordert. Dabei spielen immer Bewegungs- und Aufenthaltsqualitäten eine Rolle. Wir wollen ja allen Menschen ein gutes Leben, ein angenehmes Besorgen ihrer alltäglichen Bedürfnisse, eine Lebensgestaltung, die Arbeit, Wohnen und Erholung in ihrem Nahraum ermöglicht, zugestehen. Dazu braucht es eine alltagsgerechte Planung, die ein Gedränge oder fehlende Infrastruktur, nun auch aus gesundheitspolitischen Gründen, vermeidet. Eine Begegnungszone bietet mit Infrastruktur und Regelungen eine Möglichkeit für eine wünschenswerte Lebensgestaltung. Sie ist zudem unerlässlich, wenn wir eine gesellschaftliche Re-Integration, gerade der vulnerablen Personen, denen die soziale Teilhabe für zwei Monate aus gesundheitlichen und systemischen Gründen verwehrt worden ist, ermöglichen wollen. Es spricht aus Sicht einer Mobilitätspolitik, die sich einer nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung verpflichtet, nichts gegen eine Vorrangzone. Im Gegenteil es könnte noch schneller und tiefgreifender auf eine gerechte Mobilitätswende hingearbeitet werden, denn da gibt es ja auch noch den Klimawandel und die Umweltzerstörung, die wir dringend zu bewältigen hätten.

Nach einer Testphase soll im gesamten Stadtgebiet nur noch Tempo 30 gelten. Wie bewerten Sie das?
Ein solches Vorgehen bewerte ich als geeignet. Wir sind momentan bei einer ähnlichen Testanlage in einer kleineren Schweizer Gemeinde involviert. Die gegenwärtigen Geschwindigkeitsregimes des motorisierten Verkehrs werden in den nächsten Jahren nach unten korrigiert werden müssen. Dafür gibt es viele Gründe. Zuoberst steht noch immer: je tiefer das Tempo, desto weniger fatal fallen Unfälle für Menschen ohne Autohülle aus. Die Zahlen der verunfallten Zufussgehenden und Velofahrenden ist in den letzten Jahren nicht gesunken, wenn ihr Anteil bezüglich der Gesamtzahlen betrachten, ist er gestiegen. Dazu kommen die bereits erwähnten Qualitäten und Vorzüge für Mensch und Gesellschaft. Nehmen wir noch das Zeitargument: unterschiedliche Studien zeigen, dass es kaum einen Zeitgewinn gibt, wenn 50 statt 30 km/h im Siedlungsraum gefahren wird. Und, wer möchte schon seine kostbare Zeit im Auto im Stau stehend verbringen?

Welche Vor- und Nachteile haben Tempolimits und Vorrangzonen für einen vernetzten digitalen Mix der individuellen Verkehrsmittel der Zukunft?
Es gibt aus gesellschaftlicher Sicht keinen Grund das Tempo nicht tief zu halten. Wie die Vernetzung und digitale Durchdringung die Wahl des Verkehrsmittels v.a. bei längeren Verkehrswegen beeinflussen soll, muss in einer notwendigen Zusammenarbeit zwischen privaten, öffentlichen und zivilen Akteurinnen und Akteuren verhandelt werden. Dabei geht es darum, welche Formen von urbaner Mobilität dem Menschen zu Gute kommen und wie wir die öffentlichen Stadträume nutzen wollen. Im Gespräch sind momentan Formen der Mikromobilität und des autonomen Fahrens. Es stellen sich unterschiedliche Fragen: Welches Verkehrsmittel soll ein Individuum besitzen? Welche Verkehrsmittel dürfen öffentlich zirkulieren und abgestellt werden? Inwiefern müssen bisher externalisierte Kosten auf die Verkehrsmittelnutzenden abgewälzt werden? Welche Anreize anstelle von Hindernissen sollen für welche Formen der aktiven Mobilität gesetzt werden?

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