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Jede Großstadt braucht ihren eigenen Mobilitätsmix

Wie knapper Platz gerechter unter den Verkehrsteilnehmern aufgeteilt werden kann

Gerrit Reichel, ACV Automobil-Club Verkehr Quelle: ACV Gerrit Reichel Pressesprecher Automobil-Club Verkehr 23.06.2020
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Uwe Schimunek
Freier Journalist
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"Ein gutes Mobilitätskonzept für die Innenstadt wird man daran erkennen, dass die Attraktivität der City insgesamt wieder steigt", sagt ACV-Sprecher Gerrit Reichel mit Blick auf Vorrangzonen und Tempolimits in Brüssel. In Zukunft hofft er auf weniger starre Regeln und stattdessen auf eine intelligente Verkehrssteuerung mittels Sensorik und Prozessoren in Echtzeit.







Die Stadt Brüssel hat in der Innenstadt eine Vorrangzone für Radfahrer und Fußgänger eingerichtet - mit Tempo 20 und Bewegungsfreiheit für Fußgänger und Radfahrer. Kann das Modell als Vorbild für den Innenstadt-Verkehr auch anderswo dienen?
Aus unserer Sicht sind solche Vergleiche mit dem Ausland nach dem Muster „In der Stadt XY funktioniert das super, also müssten wir es doch auch überall machen“ ein problematischer Ansatz. Denn jede Großstadt muss ihren eigenen passenden Mix aus verschiedenen Mobilitätsmöglichkeiten herstellen. Da fließen sehr viele verschiedene Faktoren ein, die oft nicht übertragbar sind, etwa die Topografie, die vorhandene Infrastruktur und sogar das Wetter oder die Mentalität der Bewohner. In Köln zum Beispiel kann man nicht einfach einen neuen U-Bahntunnel graben, weil man schnell auf Funde aus der Römerzeit stößt, die den Bau verkomplizieren. Außerdem sind die Straßenzüge zum Teil sehr eng. Und mitten durch die Stadt fließt der Rhein.

Unabhängig davon müssen wir aber natürlich auch in Deutschland erkennen, dass die Urbanisierung zunehmend zu einer Überlastung der Verkehrswege in den Ballungsräumen führt. Die Verkehrsleistung der Menschen in den Städten nimmt deutlich zu, während sich die Fläche der Innenstädte nicht verändert. Um unsere Mobilität zu erhalten und zu verbessern, wird der Einzelne dafür weniger Fläche in Anspruch nehmen dürfen. Wir warnen als ACV davor, hier einzelne Verkehrsarten isoliert zu bevorzugen oder zu verdrängen. In Bezug auf das Beispiel aus Brüssel bedeutet das: Wir sollten nicht die Verbote in den Vordergrund stellen und die Autos einfach aus bestimmten Zonen aussperren, damit Radfahrer mehr Platz haben. Das wird keine Akzeptanz in der Bevölkerung finden. Entscheidend ist vielmehr, dass wir neue Angebote schaffen, die als echter Anreiz, als Verbesserung wahrgenommen werden. Anders ausgedrückt: Wenn eine Vorrangzone mit Tempo 20 einen echten Mehrwert für die Mobilität der Menschen bedeutet, dann sollten wir so etwas realisieren. Vermutlich wird eine seriöse Analyse aber zeigen: So einfach ist es nicht. Denn Studien wie der Fahrrad-Monitor Deutschland 2019 des BMVI zeigen deutlich: Viele Menschen haben einfach keine Lust Rad zu fahren, speziell bei schlechtem Wetter. Um die Menschen fürs Rad zu begeistern, brauchen Sie zudem nicht nur neue, breitere Radwege sondern beispielsweise auch ausreichende Abstellanlagen. Außerdem sollten die Verkehrsmittel gut vernetzt sein. Das heißt, wir brauchen auch neue Verbindungen und eine schnellere Taktung bei Bussen und Bahnen.

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Zunächst soll es mit dem Modell leichter werden, die Abstandsregeln in der Corona-Krise einzuhalten. Was spricht über die Krise hinaus für eine solche Vorrangzone - und was dagegen?
Ein gutes Mobilitätskonzept für die Innenstadt wird man daran erkennen, dass die Attraktivität der City insgesamt wieder steigt. Hier geht es auch um die Frage, wie der Einzelhandel sich gegen den Internethandel behaupten kann. Eine autoarme Innenstadt, die zum Verweilen, zum Einkaufen, zum Bummeln einlädt, die wird auch zum Wohlstand der gesamten Kommune beitragen. Das gilt unabhängig von der Corona-Krise. Die Krise wirkt lediglich wie ein Brennglas, wie ein Beschleuniger. Ein gutes Mobilitätskonzept ermöglicht eine Mobilität, die effizient, flexibel, sicher und bezahlbar ist. Auf Brüssel bezogen heißt das: Die Menschen sollten durch die Vorrangzone schneller, günstiger und umweltschonender von A nach B kommen, idealerweise auch bequemer. Sehr wahrscheinlich braucht man dafür aber mehr als eine Vorrangzone für Radfahrer und Fußgänger, nämlich ein ganzheitliches, vernetztes Mobilitätssystem. Und dazu gehören beispielsweise eben auch ein verlässlicher ÖPNV mit kurzer Taktung, P+R-Anlagen am Stadtrand und Fahrradabstellanlagen.

Nach einer Testphase soll im gesamten Stadtgebiet nur noch Tempo 30 gelten. Wie bewerten Sie das?
Tempo 30 ist im Vergleich zur überwiegend geltenden Höchstgeschwindigkeit innerorts von 50 km/h sicherlich ein Gewinn, wenn es um die Verkehrssicherheit geht. Tempo 30 bedeutet weniger Lärm, weniger Abgase. Bei einem Unfall steigen die Überlebenschancen für Radfahrer und Fußgänger auf rund 70 Prozent, bei Tempo 50 sind es gerade einmal 20 Prozent. Die Kommunen haben das längst erkannt und richten immer mehr Tempo-30-Zonen ein. In Köln etwa, dem Sitz des ACV Automobil-Club Verkehr, gibt es mittlerweile mehr als 350 solcher 30er-Zonen. Das ist aus Sicht des ACV eine positive Entwicklung, vor allem an nachweisbaren Unfallschwerpunkten. Fakt ist aber ebenso, dass es auch innerorts Straßen gibt, auf denen Tempo 50 gefahrlos möglich ist. Dies gilt zum Beispiel für gut ausgebaute mehrspurige Hauptverkehrsachsen oder in Vierteln am Stadtrand mit geringem Verkehrsaufkommen. Auf solchen Straßen würde ein Tempo-30-Gebot der Verkehrssituation nicht gerecht sondern stattdessen die Erreichbarkeit und die Mobilität der Stadt einschränken. Der ACV ist deshalb gegen ein allgemeines Tempo 30 innerorts – wie übrigens auch der Deutsche Städtetag und der Deutsche Städte- und Gemeindebund oder die Arbeitsgemeinschaft Fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise (AGFS).

Einen Lösungsansatz bietet die moderne Technik: Flexible Verkehrsbeeinflussungsanlagen können bedarfsgerecht den Verkehrsfluss lenken. Das ist allemal intelligenter, als flächendeckend den gesamten Verkehr einzubremsen. Übrigens gibt die Gesetzeslage in Deutschland aktuell auch gar keine andere Regelung her, denn Tempo 50 innerorts ist Bundesrecht. Diese Position wurde auf politischer Ebene erst kürzlich im Rahmen der StVO-Novelle vom April 2020 noch einmal bestätigt: Der Antrag auf Absenkung der innerörtlichen Regelhöchstgeschwindigkeit auf 30 km/h fand im Bundesrat keine Mehrheit und wurde abgelehnt.
 
Welche Vor- und Nachteile haben Tempolimits und Vorrangzonen für einen vernetzten digitalen Mix der individuellen Verkehrsmittel der Zukunft?
Sehr wahrscheinlich – hoffentlich! – werden starre Regelungen langsam an Bedeutung verlieren, also auch Tempolimits und Vorrangzonen. Die Experten der Nationalen Plattform Mobilität (NPM) gehen davon aus, dass in Zukunft Verkehrsdaten in Echtzeit eine intelligente Verkehrssteuerung mittels Sensorik und Prozessoren ermöglichen werden. Verkehrsströme werden sich dann ganzheitlich analysieren und optimieren lassen. Durch intelligente Vernetzung werden wir Mobilitätssysteme schaffen, die verkehrsträgerübergreifend effiziente und komfortable Mobilität bieten. Einfacher gesagt: Wir werden flexibler, flüssiger und einfacher ans Ziel kommen als heute und gleichzeitig eine höhere Auslastung im Personen- und Güterverkehr bekommen.

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