An einem „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ sollen die Bedingungen für eine Transformation von Wirtschaft und Gesellschaften erforscht und Lebensleistungen gewürdigt werden. Bis 2028 sollen an dem Zentrum Wissenschaftler verschiedener Forschungsrichtungen multidisziplinär arbeiten. Für Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt gibt es einiges aufzuarbeiten. „Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, dass die Herstellung der inneren Einheit eine Aufgabe ist, die Generationen in Anspruch nimmt“, betont der CDU-Politiker in der Fachdebatte auf meinungsbarometer.info. So groß die Freude über die Wiedervereinigung gewesen, so wenig sei 1990 klar gewesen, wie groß die Herausforderung des gesellschaftlichen Zusammenwachsens sein würde. Den Ostdeutschen sei eine beispiellose strukturelle Transformation abgefordert worden. Für die allermeisten Menschen im Westen sei hingegen alles geblieben, wie es war. Insofern erklärt der Ministerpräsident: „Aus meiner Sicht handelt es sich beim Zukunftszentrum um ein äußerst spannendes Projekt, um die Entwicklung wissenschaftlich und kulturell zu verarbeiten und vor allem Perspektiven für Deutschland und Europa aufzuzeigen.“
Der Thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow konstatiert, dass die Menschen sich zunächst ihre Freiheit erkämpft haben, um dann festzustellen, dass die Wirtschaft ihrer alten Ordnung nicht konkurrenzfähig war. „Die Überwindung des Systems hat für viele praktisch erst einmal ihre Existenz und sogar die Sinnhaftigkeit ihres Lebens bis dahin in Frage gestellt.“ Für die Betroffenen sei das eine tiefgreifende traumatische Erfahrung gewesen. Ein Zukunftszentrum kann daher „auch dazu dienen, auf solche Brüche besser vorbereitet zu sein und würdig damit umzugehen.“
Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland lenkt den Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus, denn „Nach den Veränderungen in Folge der Jahre 1989/1990, befanden sich Deutschland und die östlichen Teile Europas in grundlegenden Veränderungsprozessen.“ Der existenzielle Bruch lasse sich auch nicht mit Verweis auf die enormen Transferleistungen oder den heute erreichten relativen Wohlstand der meisten Menschen einfach übergehen. Die gemeinsame Aufgabe sei es, die Leistungen dieser Jahre anzuerkennen und daraus für den Umgang mit den Herausforderungen zu lernen. Das Zukunftszentrum hat für ihn nicht weniger zum Ziel, als die Demokratie in Deutschland und Europa – vorrangig in den mittelosteuropäischen Ländern – zu stärken.
Für Historiker Dr. Marcus Böick von der Ruhr-Universität Bochum kann eine institutionelle Bündelung der Forschungsbemühungen verschiedener Disziplinen, insbesondere der Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften, sicher dabei helfen, deutlich differenzierter über die Umbruchs- und Transformationszeiten zu diskutieren. „Viele Mythen und Erzählungen schwirren da noch durch die diversen gesellschaftlichen Resonanzräume und öffentlichen Diskussionen, Debatten und Kanäle.“ Eine umfassende historische Erkundung dieser Zeitphase habe dagegen gerade mit der Öffnung der Archive und dem Generationenwechsel erst so richtig begonnen. Auch an solch einem Zentrum könne die Forschung sicher keine politischen Allheilmittel, einfache Lehren oder allgemeine Großtheorien anbieten. „Aber sie können mit ihren verschiedenen Methoden und differenzierten Ansätzen zur konstruktiven Versachlichung aufgeheizter Debatten zwischen Ost und West beitragen, die seit Mitte der 2010er-Jahre wieder infolge der Wahlerfolge insbesondere der AfD in Ostdeutschland an Schärfe gewonnen haben.“
Mit Blick auf die Transformation selbst sieht die Soziologin Prof. em. Dr. Anna Schwarz von der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) den Versuch, eine gesamte Volkswirtschaft rasch und durch eine hierfür nicht vorbereitete Behörde wie die Treuhand grundlegend umzugestalten, als gescheitert an. Und auch in Zukunft seien derartige Mega-Experimente zu gefährlich und könnten zu suboptimalen Ergebnissen führen. „Je komplexer eine Umgestaltung, desto entscheidender sind graduelle, kontrollierte Schritte und fachlich professionelle Schlüsselakteure“, erklärt sie etwa mit Blick auf die Energiewende. Bisher funktionierende Teilbereiche wie die duale Ausbildung, das Poliklinik-Modell oder das Netz von Kinderbetreuungseinrichtungen aus politischen Gründen zunächst zu liquidieren, habe sich als kurzsichtig erwiesen, wie sich auch an der späteren Wiedereinführung zeige. Zugleich sei dies wenig förderlich, gerade für das Systemvertrauen von Ostdeutschen gewesen.
Inzwischen sind die Unterschiede zwischen Ost und West indes aus Sicht von Prof. Dr. Joachim Ragnitz vom ifo Institut gar nicht so groß wie oft behauptet. „Die verfügbaren Realeinkommen liegen in einer Größenordnung von 90% des gesamtdeutschen Niveaus, die Arbeitslosigkeit ist inzwischen auch kein Problem mehr, und selbst mit Blick auf die demographische Entwicklung nimmt der Osten nur das vorweg, was in 5-10 Jahren fast alle Regionen in Deutschland durchmachen werden.“ Die noch bestehenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland spiegeln aus seiner Sicht zumeist eher Probleme der ländlich geprägten Regionen wider, und von denen giben es im Osten halt mehr als im Westen. Das habe dann aber eben nichts mehr mit den Transformationsprozessen der letzten 30 Jahre zu tun.
Thomas Horn von der Wirtschaftsförderung Sachsen GmbH (WFS) verweist in diesem Zusammenhang auf viele Erfolgsgeschichten aus dem Mittelstand, der Sachsens Wirtschaft nach wie vor präge. Er nennt clevere Geschäftsideen mit dem Mut zur Selbständigkeit, wie bei GK Software aus Schöneck/Vogtland, heute ein börsennotierter „Global Player“, oder bei KOMSA aus Hartmannsdorf, der größte Telekommunikations-Distributor in Deutschland und weitere. Und „Heute ist Sachsen der größte Halbleiter-Standort Europas und wieder ein weltweit bekanntes Autoland.“ Zusammenfassend lässe sich sagen, dass es zum einen die Chancen und Erfolgsgeschichten sind, die Orientierung für künftige Transformationen geben. Aber auch Erkenntnisse aus gescheiterten Projekten könnten wertvolle Impulse geben, um Fehler nicht zu wiederholen.
Marcus Funk Founder & CEO Flyacts entgegnet dagegen pointiert: „Wir werden jetzt nicht die Zentralen der börsennotierten Firmen nach Ostdeutschland bekommen und auch nicht aus dem ostdeutschen Menschen einen westdeutschen Menschen machen.“ Das wolle auch keiner. Daher prognostiziert er, dass man die Unterschiede leider kurzfristig und mittelfristig nicht beheben könne. Da sei viele es zu tief verwurzelt. Das möchte er aber positiv sehen. Es gelte, die kulturellen Stärken und Chancen der jeweiligen Bundesländer auszuprägen und die Diversität zu fördern. Dafür müsse die Politik auf der einen Seite Deutschland im Geiste vereinen, auf der anderen Seite die individuelle Kultur respektieren und für Wertschätzung sorgen.
Prof. Dr. Rüdiger Steinmetz vom Leipziger Institut für Heimat- und Transformationsforschung (LIHT) betont, dass die Teilung Deutschlands und Europas kein einseitiger Prozess war, daher könne es auch umgekehrt nicht einseitig um „Transformationsprozesse in den ostdeutschen Bundesländern“ gehen. Das wäre aus seiner Sicht eine Verzerrung des Blicks und der historischen Realitäten. Transformationsprozesse hätten spiegelbildlich auch in den westdeutschen Bundesländern stattgefunden. Zwar in einem erheblich unterschiedlichen Ausmaß, doch das bedeute, das hier noch ein Aufholprozess auf der ehemals westlichen Seite stattfinden sollte. „Ein Zukunftszentrum als Freiheitszentrum – oder ein Freiheitszentrum als Zukunftszentrum – hat dies zu berücksichtigen. Es darf keinesfalls ein allein „ostdeutsches Zentrum“ werden sondern ein gesamtdeutsches!“