Die Stadt Brüssel hat in der Innenstadt eine Vorrangzone für Radfahrer und Fußgänger eingerichtet - mit Tempo 20 und Bewegungsfreiheit für Fußgänger und Radfahrer. Kann das Modell als Vorbild für den Innenstadt-Verkehr dienen?
In Zeiten von Corona ist der Stellenwert der Nahmobilität gewachsen, gerade weil wir durch Beschränkungen zuhause und in der direkten Umgebung gebunden waren. Zu Fuß gehen und Rad fahren sind noch beliebter als sonst – aber auch das Autofahren, denn viele Menschen meiden Bus und Bahn aus Sorge vor einer Ansteckung. Auch wenn die Innenstädte noch nicht das Verkehrsaufkommen vor der Krise erreicht haben, ist dies nur eine Frage der Zeit. Dass Fußgänger und Radfahrer untereinander derzeit mehr Abstand als sonst halten sollen, ist richtig. Die aktuellen Herausforderungen der Corona-Krise lassen sich aber nicht durch Geschwindigkeitsbegrenzungen lösen. Nehmen Sie das Beispiel Fußgängerzonen: Dort sind zwar alle nur in Schrittgeschwindigkeit unterwegs, aber es gibt häufig doch keine Möglichkeit, einander auszuweichen.
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Was spricht über die Krise hinaus für eine solche Vorrangzone - und was dagegen?
Blicken wir über Corona hinaus: Tempo 20 flächendeckend innerorts mit Vorrang für Fußgänger und Radfahrer ist aus verkehrsplanerischer und verkehrsrechtlicher Sicht für deutsche Städte nicht sinnvoll. Wir haben hierzulande bereits ein gut abgestuftes Instrumentarium zur Verkehrsberuhigung – vom verkehrsberuhigten Bereich mit Schrittgeschwindigkeit über den verkehrsberuhigten Geschäftsbereich bis hin zu Tempo 30-Zonen. Es hat sich bewährt und kann örtlich differenziert eingesetzt werden. In einigen Nachbarländern steht dieses Instrumentarium nicht zur Verfügung, so dass man dort für örtliche begrenzte Streckenabschnitte auf sogenannte „Begegnungszonen“ mit Tempo 20 und Fußgängervorrang als stärkstes Instrument der Verkehrsberuhigung setzt – in der Regel aber nicht auf Hauptverkehrsstraßen. Das ist auch richtig, denn bei geringer zulässiger Geschwindigkeit auf Hauptverkehrsstraßen drängt der Verkehr auf den kürzesten Weg in die Wohnquartiere. Damit ist Fußgängern und Radfahrern wenig geholfen.
Ein Vorrang für Fußgänger sollte mit Ausnahme der verkehrsberuhigten Bereiche nicht grundsätzlich, sondern nur an geeigneten Stellen gelten. So erhöhen Fußgängerüberwege die Achtsamkeit aller Verkehrsteilnehmer: der Autofahrer und der querungswilligen Fußgänger. Sie erleichtern insbesondere Kindern ein sicheres Überqueren der Fahrbahn. Dies wäre bei einer flächenhaften Vorrangregelung nicht gegeben, etwa wenn Kinder zwischen parkenden Autos die Fahrbahn queren müssten.
Nach einer Testphase soll im gesamten Stadtgebiet nur noch Tempo 30 gelten. Wie bewerten Sie das?
Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet hat Nachteile für die Verkehrssituation in den Wohngebieten, da die Bündelungsfunktion von Hauptverkehrsstraßen teilweise verloren geht und der Durchgangsverkehr durch die Wohngebiete fließt. Darunter würde besonders die Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern leiden, die mit der Maßnahme eigentlich geschützt werden sollen. Zudem wäre auch der ÖPNV von Tempo 30 betroffen, was längere Fahrzeiten von Bussen und Straßenbahnen zur Folge hätte. Auch Umweltgründe sprechen nicht für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit: Im Vergleich zu Tempo 50 führt Tempo 30 weder zur Reduzierung von Stickoxiden noch zur Einsparung von CO2-Emissionen. Dessen ungeachtet ist es natürlich sinnvoll und richtig, auch auf Hauptverkehrsstraßen örtlich begrenzt Tempo 30 anzuordnen, etwa vor Schulen, Kindergärten oder Seniorenheimen.
Grundsätzlich müssen Straßen so gestaltet sein, dass es für die Verkehrsteilnehmer einfach ist sich richtig zu verhalten. So verführen zum Beispiel lange, breite und gerade Straßenabschnitte zu höheren Fahrgeschwindigkeiten und – insbesondere bei Ausweisung als Tempo 30-Abschnitt – leichter zu Geschwindigkeitsverstößen. Sollte also ungeachtet der skizzierten Schwächen flächenhaft Tempo 30 in der gesamten Innenstadt ausgewiesen werden, wäre es für die Akzeptanz unabdingbar, Straßen mit „Tempo50-Charakter“ baulich so umzugestalten, dass niedrige Fahrgeschwindigkeiten gefördert werden.
Welche Vor- und Nachteile haben Tempolimits und Vorrangzonen für einen vernetzten digitalen Mix der individuellen Verkehrsmittel der Zukunft?
Für die Vernetzung der Verkehrsmittel spielen Tempolimits und Vorrangregelungen keine Rolle, da die Vernetzung nicht im fließenden Verkehr, sondern an Umsteigepunkten stattfindet. Bei diesen Umsteigepunkten geht es vielmehr darum, dass diese barrierefrei sind und ein breites Spektrum an digital vernetzten Mobilitätsangeboten liefern.