Ein Jahr Corona-Krise hat insbesondere die Reisebranche hart getroffen. Welche Rolle können digitale Tools wie ein europäischer Impf- oder Immunitätspass für einen Neustart der Branche spielen?
Die Digitalisierung relevanter Daten wie Testergebnisse, Impfungen, Immunitätsnachweise etc. ist für die Reisebranche von hoher Bedeutung. Die Touristik hat in den vergangenen zwölf Monaten exzellente und nahtlos ineinandergreifende Hygienekonzepte erarbeitet und in die tägliche Praxis umgesetzt, um sicheres Reisen auch weiterhin zu ermöglichen. Richtig eingesetzt, kann die Weitergabe von Impf- und Test-Daten innerhalb der Dienstleistungskette helfen, den Leistungsträgern die notwendige Transparenz und den Kunden die notwendige Sicherheit zu geben: Jeder Schritt in diese Richtung – sei es auf EU-Ebene oder national – wird von der Touristik begrüßt und unterstützt. Technisch jedenfalls ist die Touristik längst in der Lage, diese Informationen in die Datenübermittlung vom Reisebüro bis ins Hotel im Zielgebiet digital sicherzustellen.
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DIE DOKUMENTATION DIESER FACHDEBATTE
Insbesondere Digitalunternehmen rüsten sich nach Medienberichten bereits für Übernahmen anderer Firmen. Was bedeutet das für die Branche?
Das ist differenziert zu sehen: Für die im Fokus stehenden Betriebe ist dies ein Beleg dafür, dass sie die digitale Transformation so erfolgreich bewältigt haben, dass sie nun auch für Investoren von außerhalb der Branche interessant werden – eine Bestätigung der umfangreichen Maßnahmen innerhalb der Touristik in den letzten Jahren. Für die anderen Player heißt es – noch mehr als vor Corona – noch mehr digitalisieren UND noch mehr spezialisieren. Das Eine ohne das Andere wird nicht ausreichen und die Spezialisierung wird nur in jenen Nischen erfolgreich sein, die für die größeren Unternehmen nach wie vor zu komplex sind und dies auch bleiben werden.
Wir prognostizieren, dass dies zudem zu einer weiteren Differenzierung der Geschäftsmodelle führen wird: Hier die digitalisierten Massenprodukte wie z.B. der klassische Badeurlaub am Mittelmeer – dort die beratungsintensiven Studien- und Fernreisen, wo nur Teile der Prozesse automatisiert werden können. Aber auch in diesen Nischen hat die Branche in den letzten 12 Monaten schnell hinzugelernt, welche flankierenden Möglichkeiten sich z.B. durch Online-Beratungen und virtuelle Erlebnisse ergeben.
Nicht zu unterschätzen ist auch, dass die derzeit sehr differenzierten und häufig wechselnden Regelungen zu Risikogebieten, Pflichttests und Quarantäne die klassische Rolle der Reisebüros als zuverlässiger "Navigator" durch den Wust an Vorschriften und Einschränkungen stärken werden.
Welche Chancen sehen Sie auf der anderen Seite in Vernetzung und digitalen Vertriebsmöglichkeiten für die klassischen Reisebüros und -veranstalter?
Wir sehen für diese Unternehmen große Chancen, wenn es ihnen gelingt, ihre große Zielgebietskompetenz mit Hilfe digitaler Technologien besser einzusetzen. Insgesamt ist in der Branche noch zu wenig das Bewusstsein vorhanden, dass es durch agilere Beratungs- und Buchungsprozesse sowie individualisierter Interaktion gelingen kann, für Wunschkunden relevanter und somit erfolgreicher zu werden. Durch verbesserte Digitalisierung ergeben sich zudem ganz neue Optionen, den schon vor Corona bestehenden Herausforderungen wie Klimawandel und Overtourism erfolgreicher zu begegnen. So lässt sich mit Hilfe digitaler Tools der ökologische Fußabdruck individuell berechnen und dem Kunden können klimafreundlichere Alternativen aufgezeigt werden. Auch zur Steuerung von Besucherströmen in stark besuchten Zielgebieten lassen sich durch Digital Tools adäquate Lösungen schaffen.
Wie sollte die Politik die Branche beim Neustart unterstützen?
So verlockend es für den Bund auch sein mag, mit den staatlichen Milliardenhilfen an TUI, Lufthansa & Co auch deren weitere Digitalisierung zu fördern und diese Konzerne somit international noch wettbewerbsfähiger zu machen, darf dies nicht zu Lasten der mittelständischen Unternehmen gehen.
Deren größte Herausforderung ist sicher, dass seit einem Jahr das Reiseaufkommen weniger als 20% der üblichen Werte beträgt und für eine gesamte Branche fast alle Einnahmen weggebrochen sind. Alle Unternehmen sind aus finanziellen Gründen gezwungen, einen Großteil der Beschäftigten in Kurzarbeit zu schicken. Wer in Kurzarbeit ist, darf aber per Gesetz in dieser Zeit nicht fortgebildet werden, nicht an zukunftsweisenden Entwicklungen mitwirken. Dabei wäre jetzt der ideale Zeitpunkt, um in die Digitalisierung zu investieren und die Mitarbeiter entsprechend zu schulen. Zu loben ist in diesem Zusammenhang die Förderung der eigentlichen Technik-Investition durch die Überbrückungshilfe III – aber zusätzlich muss es unbedingt möglich werden, Arbeitgeber und Mitarbeiter während der Umstellung und Schulung weiterhin finanziell zu fördern. Dies kann z.B. durch eine Ausweitung des Anspruchs auf Kurzarbeitergeld erfolgen: Beschäftigte, die nicht "produktiv" tätig sind, sondern die neuen digitalen Lösungen im Unternehmen implementieren oder für deren Anwendung geschult werden, sollten ebenfalls Kurzarbeitergeld beziehen können, um die Belastung des Betriebes zu reduzieren und somit die Basis für eine langfristig wettbewerbsfähige Positionierung in der digitalen Welt zu schaffen.