Inwieweit kann der aktuelle Chipmangel generell die Qualität und das Tempo der Digitalisierung beeinträchtigen?
Basis für die Digitalisierung sind gut ausgebaute Breitbandinfrastrukturen. Hier liegt Deutschland weiterhin mit am Ende aller führenden Industrienationen. Daher versucht man gerade den Übergang von Kupfer- zu Glasfasernetzen zu beschleunigen und rüstet die Kabelnetze mit DOCSIS 3.1 auf. Um die Haushalte an die neuen Hochgeschwindigkeitsnetze anzuschließen, werden Router benötigt. Der Gesamtbedarf für Neuanschlüsse und den Ersatz von Altgeräten liegt bei weit über 10 Millionen Stück jährlich. Wenn davon in den kommenden 12 Monaten nur etwa die Hälfte bereitsteht, bremst dies die Digitalisierung massiv aus. Zumal der Halbleitermangel sich ja auch auf die Produktion mobiler und fester Endgeräte für den Zugang zum Internet auswirkt.
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Viele Produzenten weltweit kündigen gerade kräftige Investitionen in die Produktionskapazitäten an. Reicht das aus, um den Mangel zu beseitigen?
Nein! Es ist der klassische Schweinezyklus aus der Volkswirtschaftslehre. Wenn der Bedarf steigt, werden mit Zeitverzögerung mehr Schweine produziert und umgekehrt. Dies ist aber nur ein Aspekt des Problems. Aktuell treffen verschiedene Knappheiten und Realitäten aufeinander. Es fehlt überall an Rohstoffen. Die Halbleiterfertigung ist hochkomplex, weltweit extrem arbeitsteilig, ineinander verzahnt und lässt sich nicht über Nacht hochfahren. Bis ein Halbleiter fertig ist, reist dieser rund zweieinhalbmal rund um den Erdball. Nur ist der weltweite Containermarkt für den Transport leergefegt. Die Expertenschätzungen von nur 12 Monaten Mangel sind daher aus meiner Sicht fast noch zu optimistisch.
In den USA hat die Regierung Biden den Chipmangel als „nationale Bedrohung“ erkannt und setzt auf eine komplexe Strategie in Sachen digitale Souveränität. Sehen Sie in Europa ebenfalls adäquate Lösungsansätze?
Halbleiter sind das neue Rohöl. Europa verbraucht rund 20 Prozent der weltweiten Produktion und hat kaum eigene Kapazitäten. Viel Know-how und Kapazitäten flossen nach Asien und in die USA. Die vor einigen Tagen von Deutschland und Frankreich angekündigte Initiative wird dies kurzfristig nicht ändern, ist aber ein dringend notwendiger Ansatz. Die aktuelle Krise ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Überall fehlen zunehmend Baustoffe, Leerrohre, Elektrokabel und selbst Motoröl wird knapp. Im Sommer drohen bei sehr vielen Projekten Kurzarbeit und Baustopps. Auch beim Breitbandausbau. Die aktuellen Vorräte reichen bei den meisten nur zwei, drei Monate und die Preissteigerungen sind unkalkulierbar. Die jüngsten Äußerungen des Baugewerbes sind in ihrer Eindeutigkeit alarmierend.
Chips sind nur ein Aspekt der Digitalisierung: Wie bewerten Sie die infrastrukturellen Voraussetzungen für die weitere Digitalisierung im Lande und in Europa?
Die Digitalisierung hat sich in der Pandemie in Deutschland beschleunigt. Dies bestätigt eine aktuelle Studie von McKinsey & Company. Allerdings lag Deutschland von 19 untersuchten Ländern nur auf Platz 18. Und die Analysten glauben, dass viele nach der Pandemie zu ihren analogen Verhaltensmustern zurückkehren. Faktisch ist Deutschland bei der Breitbandinfrastruktur und der Digitalisierung in Europe gegenüber den meisten Staaten deutlich abgeschlagen. Die in Wahlperioden denkende Politik hinkt den Entwicklungen konzeptionslos hinterher. Bis es flächendeckend Gigabit-Netze als Basis für die Digitalisierung gibt, vergeht noch mindestens ein Jahrzehnt. Den großen Vorsprung von Skandinavien und den meisten anderen europäischen Ländern werden wir nicht mehr aufholen, da die Digitalisierung dort auf einem ganz anderen Niveau viel schneller weiter vorangetrieben wird. Wenn wir hier nicht möglichst rasch tragfähige Beschleunigungskonzepte entwickeln, sehe ich die Entwicklung sehr skeptisch.