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Von gefährlichen Mega-Experimenten und der Skepsis gegenüber Veränderungen

Was im Osten schief lief - und was künftig besser gehen könnte

Prof. em. Dr. Anna Schwarz - Europa-Universität Viadrina Quelle: Heide Fest Prof. em. Dr. Anna Schwarz Soziologin Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) 25.01.2023
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Für das Ziehen von Lehren aus der ostdeutschen und mittel-osteuropäischen Transformation ist aus Sicht von Prof. Dr. Anna Schwarz, eine "genauere Kenntnis der jeweiligen nationalen Transformationsbedingungen und –verläufe" nötig. Die Soziologin richtet einen Blick auf die bisherige Transformation und formuliert auch Vorstellungen, was geplante Zukunftszentren leisten könnten.







Welche Erkenntnisse aus der Transformation in ostdeutschen Bundesländern lassen sich für die gesamte Bundesrepublik ziehen?
Der Versuch, eine gesamte Volkswirtschaft rasch und durch eine hierfür nicht vorbereitete Behörde wie die Treuhand grundlegend umzugestalten, muss als gescheitert angesehen werden. Derartige Mega-Experimente sind zu gefährlich und können zu suboptimalen Ergebnissen führen. Je komplexer eine Umgestaltung, desto entscheidender sind graduelle, kontrollierte Schritte und fachlich professionelle Schlüsselakteure (vgl. Energiewende). Bisher funktionierende Teilbereiche wie die duale Ausbildung, das Poliklinik-Modell oder das Netz von Kinderbetreuungseinrichtungen aus politischen Gründen zunächst zu liquidieren, hat sich als kurzsichtig erwiesen, wie sich auch an der späteren Wiedereinführung zeigt. Zugleich war dies wenig förderlich, gerade für das Systemvertrauen von Ostdeutschen.

Die symbolische und physische Vernichtung von kulturellen Identitätskernen einer Region wie Ostdeutschland (Umbenennungen von Straßen, Abriss des Palastes der Republik für den Wiederaufbau des Schlosses u.ä.) provozieren oft jahrzehntelange, tiefsitzende Skepsis gegenüber solchen Veränderungen, hier wäre mehr Sensibilität nötig und auch wo möglich das Einholen von Referenden.  

Was kann und soll Politik zur Reduzierung der wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen Ost und West tun?
Es ist gar nicht sinnvoll, sämtliche dieser Unterschiede zwischen den Regionen zu reduzieren. Teilweise erweisen sich in einzelnen Regionen, z.B. Sachsen, jahrzehntelange Traditionen etwa einer unternehmerischen Kultur als sehr wirkungsvoll, diese sollte man eher stärken. Aber der Abbau grundlegender struktureller Wettbewerbs-Nachteile v.a. der ostdeutschen Wirtschaft wäre natürlich wünschenswert, wenn auch nicht so einfach umzusetzen. Ideal wäre die Förderung der Ansiedlung von Großunternehmen mit ihren Forschungszentralen in Ostdeutschland, ggf. über steuerliche Erleichterungen. Letztes sollte auch für den ostdeutschen Mittelstand genutzt werden. Ostdeutschen sollte der Zugang zu Unternehmenskrediten erleichtert werden, gerade wenn sie kaum über Immobilien als Sicherheit verfügen. Zu den hinderlichen sozialen Unterschieden gehört auch die weitgehende Dominanz westdeutscher Eliten in nahezu allen Bereichen in Ostdeutschland, noch dazu oftmals mit geringer Fachkompetenz. Diese sollte schrittweise durch mehr qualifizierte Ostdeutsche abgelöst, mehr Ostdeutsche in Schlüsselpositionen eingesetzt werden. Bis heute sind etliche Bildungs- und Berufsabschlüsse aus der DDR nicht als gleichwertig anerkannt, hierdurch werden enorme Potenziale verschenkt und Frustrationen ausgelöst. Gerade in den ländlichen Regionen sollte eine moderne öffentliche Verkehrsinfrastruktur gestärkt werden, um diese Regionen nicht abzuhängen.

Welche Potenziale aus Transformationserfahrungen der Ostdeutschen sind für künftige gesamte Bundesrepublik nutzbar?
Die Ostdeutschen haben erlebt, dass sie durch friedliche Massenproteste selbst grundlegende Verhältnisse verändern können. Zugleich machten sie die Erfahrung, dass sich kleinere Veränderungen vor Ort nur durch eigenes Engagement verwirklichen lassen, oft gegen bürokratische Widerstände. Seitdem begegnen viele Ostdeutsche vollmundigen politischen Versprechungen eher mit gesunder Skepsis – ein Zuviel an positiven Zukunftsvisionen kann schnell unglaubwürdig werden.

Die Transformation bedeutete für viele Ostdeutsche eher eine Sinnkrise und sozialen Abstieg. Solche gravierenden Umwälzungen bewältigen Menschen am besten, wenn sie sich auf funktionierende Familien und Freundeskreise stützen können. Diese privaten Umfelder möglichst bei der Stabilisierung zu flankieren wäre wichtig für die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. Nur mit einem gesunden Selbstwertgefühl (anstatt mit realen oder gespürten Abwertungen) lassen sich Krisen bewältigen.

Was lässt sich aus Wandel bei ostmitteleuropäischen Nachbarn lernen?
Voraussetzung für solch gegenseitiges Lernen ist eine genauere Kenntnis der jeweiligen nationalen Transformationsbedingungen und –verläufe, und hierfür ist wiederum ein größeres Interesse dafür auf allen Seiten nötig. Noch immer richten sich die Blicke etlicher osteuropäischer und auch ostdeutscher Akteure allerdings eher gen Westen, auch in die „alte“ Bundesrepublik“ als nach Osten.

Dies zu durchbrechen bedarf vielfältiger Anstrengungen, auch im kulturellen Bereich und in den neuen sozialen Medien, die viel stärker rezipiert werden als traditionelle TV-Formate. Man könnte diese geplanten Zukunftszentren auch dafür nutzen, dieses gegenseitige Interesse gezielt zu wecken, beispielsweise  durch attraktive Vorstellungen lebendiger urbaner und industrieller Zentren, wie etwa die Großräume Danzig oder Kattowitze in Polen. Auch die Idee der Partnerstädte könnte dafür mit neuem Leben erweckt und ausgedehnt werden und wirklichen Austausch, wirkliches Kennenlernen bei breiteren Bevölkerungsschichten fördern, jenseits einer formalen „Feiertagskultur“.

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