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Interview16.08.2022

Menschen von der PKW-Nutzung abwerben

Strategische Verkehrspolitik findet nicht statt - negative Klimaauswirkungen sind die Folge

Christoph Aberle - Verkehrswissenschaftler von der Technischen Universität Hamburg Quelle: Carolin Büttner Christoph Aberle Verkehrswissenschaftler TU Hamburg
INITIATORIN DIESER FACHDEBATTE
Simone Ulrich
Freie Journalistin
Meinungsbarometer.info
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"In der praktischen Verkehrsplanung soll Digitalisierung dabei helfen, Verkehr effizient zu organisieren und negative Effekte zu mindern, allen voran CO2- und Feinstaubausstoß.", so der Verkehrswissenschaftler Christoph Aberle von der TU Hamburg. Das automatisierte Fahren ist in diesem Zusammenhang in aller Munde. Was Aberle bisher vermisst, ist eine strategische Verkehrsplanung: Gleichzeitg einen Tankrabatt UND das 9-Euro-Ticket anzubieten, ist keine Priorisierung.





Welche Rolle spielt die Digitalisierung bei der nachhaltigen Mobilitäts- und Verkehrsplanung?
Die Digitalisierung gilt als Hoffnungsträger in diversen Bereichen, von der Antriebstechnologie über die Fahrgastinformation in Echtzeit bis hin zur Verkehrsvermeidung durch Videokonferenzen. In der praktischen Verkehrsplanung soll Digitalisierung dabei helfen, Verkehr effizient zu organisieren und negative Effekte zu mindern, allen voran CO2- und Feinstaubausstoß. Im digital vermittelten Ridepooling etwa bündeln Beförderungsdienste die Fahrtwünsche der Fahrgäste. Die Anbieter erklären das Ziel, Menschen mit einem flexiblen und komfortablen Angebot dauerhaft vom eigenen Pkw abzuwerben und somit Emissionen pro Personenkilometer zu senken. Kritik entzündet sich an der Quote an Leerkilometern, die Ridepooling-Anbieter trotz optimierter Fahrtrouten produzieren und damit zur Verkehrsbelastung beitragen (1). Auch wird kritisiert, dass viele der digitalen Angebote sich in Großstädten ballen, wo der öffentliche Nahverkehr i.d.R. bereits gut ausgebaut ist (2), während der Bedarf außerhalb der Zentren ungleich größer wäre.

Darüber hinaus ist das automatisierte Fahren ein heißes Thema. Der wesentliche Treiber der Digitalisierung in diesem Bereich ist der demografische Wandel: Um dem Mangel an Fahrpersonal zu begegnen, erproben Verkehrsunternehmen automatisierte Kleinbusse und vereinzelt auch Züge im Fahrgastbetrieb.

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Wie wichtig ist die Priorisierung bei der Verkehrsplanung, wenn man die gesetzten Umwelt- und Klimaschutzziele erreichen möchte?
An erster Stelle stünde meines Erachtens eine strategische Verkehrspolitik, die die Pariser Klimaziele in ihrer Verbindlichkeit anerkannte und den ordnungspolitischen Rahmen setzte, um sie zu erreichen. Im Bund bleibt das Steuer allerdings weiterhin unbesetzt, wie Prof. Oliver Schwedes von der TU Berlin bildlich resümiert (3). Stattdessen werden Nebelkerzen geworfen (Wer druckt dem Verkehrsminister ein paar Schilder für ein Tempolimit?) (4) und wird Verkehr ziellos gefördert (es gibt den Tankrabatt und das 9-Euro-Ticket, womit eben nicht priorisiert wird). Die Verkehrsmenge steigt indes wieder auf das Niveau vor dem Beginn der Covid-19-Pandemie (5). In der Folge ist zu befürchten, dass der Verkehrssektor die Klimaziele auch weiterhin verfehlt (6).

Nicht zuletzt geht es natürlich um die Umsetzung vor Ort. In vielen Kommunen nehme ich eine große Aufbruchsstimmung wahr, um Verkehrsflächen in lebenswerte Räume zu umzuwandeln. Sie stößt allerdings bisweilen an Grenzen; sei es durch den Mangel an Personal (7) oder durch die Bundesgesetzgebung, die eine großflächige Verkehrsberuhigung verhindert (8).

Wie kann die sozial-ökologische Mobilitäts- und Verkehrswende gelingen, die niemanden abhängt und alle mitnimmt?
In unserem Forschungsprojekt MobileInclusion haben wir einkommensarme Menschen zu ihrem Mobilitätsverhalten befragt. Kaum überraschend: Sie nutzen besonders häufig den öffentlichen Nahverkehr und die entscheidende Hürde ist für sie der Fahrpreis (9). Auch mit seinen komplexen Tarifzonen und Zahlgrenzen schreckt der ÖPNV Fahrgäste ab – was übrigens nicht nur für Einkommensarme gilt.

Bevorzugt sollten diejenigen ein ermäßigtes Angebot bekommen, die sich den bisherigen Fahrpreis nicht leisten können. Denkbar ist beispielsweise, das bundesweite 9-Euro-Ticket für sie zu verstetigen und es für alle anderen zu einem höheren, dennoch attraktiven, Preis anzubieten. Finanzierbar ist das zum Beispiel, indem fossile Kraftstoffe angemessen besteuert werden. Durch umweltschädliche Subventionen im Verkehr entgehen unserem Gemeinwesen knapp 31 Milliarden Euro pro Jahr. Zum Vergleich: ein bundesweites 9-Euro-Ticket würde pro Jahr ein Drittel davon kosten (10).

Wie möchte man einen verlässlichen ÖPNV in den ländlichen Regionen ausbauen?
In manchem Dorf ist der Schulbus das Rückgrat des Nahverkehrs – er fährt zwar verlässlich, aber nur zwei Mal am Tag und in den Ferien gar nicht. Mehr als ein Drittel der Menschen in Deutschland finden an ihrem Wohnort keinen oder nur einen sehr schlechten ÖPNV vor (11).

Im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten versuchen viele ländliche Kommunen, dieses Niveau im ÖPNV-Angebot zu steigern – bzw. mancherorts, es überhaupt zu halten. Auch hier können digital vermittelte Fahrdienste abhelfen. In dünn besiedelten Gebieten kann zum Beispiel das Ridepooling seine Flexibilität ausspielen und als Zubringer für Bus und Bahn dienen. Auch Bürgerbusse und Mitfahrbänke gehören zum kommunalen Repertoire, um ein Mindestmaß an Mobilität zu gewährleisten.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Viele Regionen wurden in den vergangenen Jahrzehnten regelrecht zersiedelt. Jede weitere Einfamilienhaus-Siedlung auf grüner Wiese erzeugt ja erst den dispersen Verkehr, den die Verkehrssysteme unter hohem Energieaufwand abwickeln müssen – beim öffentlichen Verkehr kommen noch die Personalkosten dazu. Um diesen Verkehr zu vermeiden, wünsche ich mir eine Planung, die Siedlungs- und Verkehrsentwicklung zusammen in den Blick nimmt.

 

 

 

(1) Transport & Environment, Europe’s giant ‘taxi’ company: is Uber part of the problem or the solution?, 2019, https://www.transportenvironment.org/sites/te/files/publications/T%26E_Europe%20s%20giant%20taxi%20company%20is%20Uber%20part%20of%20the%20problem%20or%20the%20solut…%20%281%29.pdf; Christian Mehlert, Transport-on-Demand: Alles Uber, oder was? Vortrag auf der DVWG-Veranstaltung „MOIA & CO: Konsequenzen von On-Demand-Shuttle-Angeboten für ÖV- und Taximarkt“, Hamburg 2019.

(2) Christoph Aberle, Who Benefits from Mobility as a Service? A GIS-Based Investigation of the Population Served by Four Ride-Pooling Schemes in Hamburg, Germany, in: KN - Journal of Cartography and Geographic Information, 22 (2020), S. 3.

(3) Oliver Schwedes, Am Steuer? Instrumente und Anwendungsfelder der Verkehrspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 43 (2019), S. 19–27, https://www.bpb.de/apuz/298744/instrumente-und-anwendungsfelder-der-verkehrspolitik.

(4) Karen Bauer, #Faktenfuchs: Genug Verkehrsschilder für temporäres Tempolimit, 20. April 2022, https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/faktenfuchs-genug-verkehrsschilder-fuer-temporaeres-tempolimit,T3X5ko2 (abgerufen am 29. Juli 2022).

(5) Simon Hrubesch, Corona: Wie sich unsere Mobilität verändert hat, Mainz, 2021, https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-mobilitaet-deutschland-veraenderung-100.html (abgerufen am 28. Juli 2022).

(6) Vgl. auch BMU, Klimaschutz in Zahlen. Fakten, Trends und Impulse deutscher Klimapolitik, Berlin, 2021, S. 36, https://www.bmuv.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/klimaschutz_zahlen_2021_bf.pdf.

(7) Clemens Schminke, Amt für Straßen und Verkehrsentwicklung: Akuter Personalmangel beim Verkehrsdezernat, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 14. März 2021, https://www.ksta.de/koeln/ueber-200-beschluesse-unbearbeitet-akuter-personalmangel-beim-koelner-verkehrsdezernat-38179692?cb=1657906527299& (abgerufen am 15. Juli 2022).

(8) Philipp Kosok, Städte wollen mit Tempo 30 die Mobilitätswende angehen, Berlin, 2022, https://www.agora-verkehrswende.de/blog/staedte-wollen-mit-tempo-30-die-mobilitaetswende-angehen/ (abgerufen am 15. Juli 2022).

(9) Stephan Daubitz und Christoph Aberle, Mobilität und Soziale Exklusion in Hamburg: Faktenblatt, 2020, https://tore.tuhh.de/bitstream/11420/7705/1/MobileInclusion_Faktenblatt_HH.pdf.

(10) Eigene Berechnung auf Grundlage von Daten des UBA (2021, Datenstand 2018) und des Bundestags (2022), Annahme: 30,8 Mrd. EUR p.a. schädliche Subventionen im Verkehrsbereich und 2,5 Mrd. EUR pro Quartal für das 9-Euro-Ticket.
UBA (2021): Umweltschädliche Subventionen in Deutschland. Aktualisierte Ausgabe 2021. Nr. 44/2021. Dessau-Roßlau (Texte, 143/2021). Online verfügbar unter https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/479/publikationen/texte_143-2021_umweltschaedliche_subventionen.pdf, zuletzt geprüft am 28.07.2022.
Bundestag (2022): Bundestag beschließt das Neun-Euro-Ticket. Online verfügbar unter https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw20-de-neun-euro-ticket-894660, zuletzt aktualisiert am 28.07.2022, zuletzt geprüft am 28.07.2022.

(11) Agora Verkehrswende, ÖV-Atlas Deutschland, Berlin, 2021, https://www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen/oev-atlas-deutschland/ (abgerufen am 28. Juli 2022).

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