In der Regel steht heute bei der Entwicklung von Software "die Funktionalität im Vordergrund", Barrierefreiheit bei der Anwendung ist allenfalls ein mehr oder weniger erwünschter Nebeneffekt, konstatiert Prof. Dr. Monika Maria Möhring, Geschäftsführende Direktorin des Zentrums für blinde und sehbehinderte Studierende (BliZ) an der TH Mittelhessen. Für mehr Inklusion seien strukturelle gesetzliche Anpassungen nötig, die nicht nur öffentliche Unternehmen, sondern auch private Firmen zu Änderungen zwängen: "Als Vorbild könnten die Sarbanes-Oxley/EuroSOX-Direktiven gelten, welche nach größeren Firmenskandalen wie Enron vorschrieben, Finanzsoftware für größere Unternehmen ab einem Stichtag manipulationssicher zu machen."
In diese Kerbe schlägt auch Markus Lemcke: "Die Politik muss endlich dafür sorgen, dass die bestehenden rechtlichen Vorgaben umgesetzt werden", sagt der Web- und Software-Entwickler sowie Unternehmer, Berater und Dozent in Sachen barrierefreie Informatik. Dann sei generelle Barrierefreiheit bei digitalen Anwendungen kein unerfüllbarer Wunschtraum mehr für Menschen mit Handicaps. "Wünschenswert wäre, dass Menschen mit Behinderungen als Softwaretester eingesetzt und bezahlt werden."
Dem schließt sich Christina Marx an: Bei der Entwicklung digitaler Angebote habe die Aktion Mensch mit der Beteiligung gehandicapter Personen gute Erfahrungen gemacht, sagt die Leiterin Aufklärung und Kommunikation der Aktion Mensch. Nur so gelinge es, im Ergebnis sehr viel barrierefreier zu werden und eine höhere Akzeptanz zu erreichen. "Nur wenn im Entwicklungsprozess von Lernangeboten von Anfang an alle Nutzer*innengruppen konsequent mitgedacht werden, ist eine nutzerzentrierte Entwicklung gewährleistet."
"Wer die Barrierefreiheit nicht von Anfang an in seinen Entwicklungsprozessen berücksichtigt, hat zum Ende einen deutlich höheren Aufwand, die Barrierefreiheit noch umzusetzen", bringt Thomas Brumloop, Geschäftsführer des jungen Softwareunternehmens DIGIaccess aus Bonn, den Faktor Kosten ins Spiel. Barrierefreiheit sei schon auf dem Weg zur Standardanforderung. Hier entfalte die entsprechende Direktive der Europäischen Union ihre Wirkung. Allerdings fehle es noch an deutlichen Konsequenzen bei Nichtumsetzung.
Dem Argument der hohen Kosten lässt sich entgegenwirken: "Bei der individuellen Entwicklung einer digitalen Anwendung ist es entscheidend, die genauen Anforderungen an die Barrierefreiheit schon zu Beginn zu definieren", betont Nico Maikowski, Senior User Experience Professional beim Softwareunternehmen Capgemini in Nürnberg. Dann könnten sie schon im Entwicklungsprozess angemessen berücksichtigt werden. "Wer User-Bedürfnisse allgemein ernst nimmt, bereitet auch der digitalen Inklusion den Weg. ...Eine wird Anwendung automatisch nutzerfreundlicher, wenn ich mich zuerst gezielt um die Menschen mit Einschränkungen – oder wie die DIN ISO 9241 sagt, mit besonderen Erfordernissen – kümmere. Was für sie notwendig ist, macht die Nutzung für alle angenehmer."
Barrierefreiheit sei illusorisch, Barrierearmut deshalb das vorrangige Ziel von inklusivem User-Experience-Design, sagt Constantin Oestreich, User Experience Design Consultant bei der dotSource GmbH Jena. Inklusives User-Experience-Design spiele bereits in vielen Projekten eine Rolle. Und natürlich sei es an einigen Stellen mit etwas höheren Aufwänden und entsprechenden Mehrkosten verbunden. "Aber der Aufwand lohnt sich – nicht zuletzt, weil es seit Sommer 2021 eine neue EU-Richtlinie gibt, die im deutschen BFSG (Barrierefreiheitsstärkungsgesetz) im Jahr 2025 voll verbindlich wird."
Am 28. Juni 2025 wird das neue Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft treten. Prof. Dr. Erdmuthe Meyer zu Bexten, Landesbeauftragte für barrierefreie IT des Landes Hessen, setzt ganz auf das wichtige Datum, das der digitalen Inklusion einen großen Schub verleihen werde. "Zur Gestaltung der Zukunft braucht es Innovation, also die Änderung tradierter Denkmuster und Prozesse und dies merken die Anwendungsentwickler. Tradierte Denkmuster gingen von einer digitalen Barrierefreiheit als Hemmschuh für die Entwicklung zukunftsfähiger Anwendungen aus." Das ändere sich, "auch weil die Erkenntnis reifte, dass ein Unterlassen dieser Teilhabe und Inklusion häufig zu späteren Kostensteigerungen, massiven Verzögerungen oder sogar zu Abbrüchen in der Entwicklung von digitalen Anwendungen führen kann".
Die Corona-Pandemie hat den Bildungstechnologien einen großen Schub verliehen. Man sei der normalerweise zu erwartenden Entwicklung "drei bis vier Jahre voraus", ist Richard J. Powers überzeugt, Mediendidaktiker und Lerndesigner an der Universität Stuttgart. Gerade das allgemeine Verständnis, warum Barrierefreiheit sein muss, habe profitiert. Trotzdem sei die Entwicklung uneinheitlich: Er glaube, dass manche Führungskräfte "keinen Wert in Optionen für Student*innen in Bezug auf Modalitäten sehen, und dass sie den Fähigkeiten digitaler Anwendungen zum Lehren und Testen der Messung von Lernzielen misstrauen". Trotzdem hätten Tausende Universitätsdozent*innen Blended Learning und digitale Anwendungen für Bildungstechnologie in ihren Lehrveranstaltungen entwickelt, implementiert und nutzen sie weiterhin. "Dieser Trend wird sich nicht nur fortsetzen, sondern im Laufe der Jahre verstärken, insbesondere wenn diese Juniorprofessor*innen in führende Positionen wechseln in ihrer Karriere. Es ist eine sehr aufregende Zeit für universelles Design für Lernende aller Lernpräferenzen und Neurodivergenzen."