Wie verläuft im Allgemeinen die Entwicklung von digitalen Anwendungen?
Heutigentags, im Zeitalter der Digitalisierung der Gesellschaft, steckt in nahezu jedem Gerät eine digitale Anwendung. Noch vor wenigen Jahren analog abgewickelte Anwendungen wurden unlängst „digital transformiert“. Inzwischen nimmt die digitale Transformation einen solch großen Raum in unserer Gesellschaft ein, dass innerhalb der modernen Softwareentwicklung in den überwiegenden Fällen bereits auf bestehende Software zurückgegriffen wird. Diese bilden damit den Rahmen und das Fundament für neue Entwicklungen. Neues wird meist in ein bestehendes Framework großer Entwicklerfirmen eingebettet. Da kann häufig schon das Problem der Gewährleistung einer barrierefreien Teilhabe beginnen. Aber auch bei gänzlichen Neuentwicklungen kommt es leider dazu, dass Softwarefirmen das Thema der barrierefreien IT nicht vollumfänglich präsent ist.
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Inwiefern spielt Barrierefreiheit in diesem Prozess schon eine Rolle und wer außer den Entwicklern testetet die Entwicklungsergebnisse bis zum Punkt der Marktreife?
Zur Gestaltung der Zukunft braucht es Innovation, also die Änderung tradierter Denkmuster und Prozesse und dies merken die Anwendungsentwickler. Tradierte Denkmuster gingen von einer digitalen Barrierefreiheit als Hemmschuh für die Entwicklung zukunftsfähiger Anwendungen aus. Heute, in der Zeit, in welche der breite Konsens der Teilhabe und der Inklusion zum unwiderruflichen Teil des Gesellschaftsvertrages wurde, spielt die Berücksichtigung der Barrierefreiheit in der Entwicklung von digitalen Anwendungen eine immer größere Rolle. Auch weil die Erkenntnis reifte, dass ein Unterlassen dieser Teilhabe und Inklusion häufig zu späteren Kostensteigerungen, massiven Verzögerungen oder sogar zu Abbrüchen in der Entwicklung von digitalen Anwendungen führen kann. Unternehmen verinnerlichen zunehmend, dass Anwendungen so gestaltet werden, dass sie für alle wahrnehmbar (z. B. mit Screenreader), bedienbar (z. B. indem alle Funktionen auch ohne Maus genutzt werden können), verständlich (z. B. durch Gewährleistung einer verständlichen Ausdrucksweise) und robust (z. B. Nutzbarkeit auf einer großen Anzahl von Ausgabegeräten) sind. Durch das Erreichen dieser Standards wirken sie gesetzlichen Verstößen aufgrund von Diskriminierung entgegen, entwickeln ein positives Firmenimage, werden in Suchmaschinen besser gefunden und garantieren eine erhöhte Anwenderzufriedenheit. Die Testung von Entwicklungsergebnissen bis zum Punkt der Marktreife ist daher heute weitestgehend ein Standard großer Entwickler. Spätestens im Jahre 2025 wird mit der Einführung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) eine umfassende Berücksichtigung und eine vorherige Einbindung von Betroffenen durch Testung zur Regel. Eine gesetzliche Pflicht, die bereits seit 2018 für öffentliche Stellen gilt und auch durch eigens dafür eingerichtete Durchsetzungs- und Überwachungsstellen in den Bundesländern und auf Bundesebene überwacht wird. Eine Aufsicht, die auch für die Privatwirtschaft und somit für Anwendungsentwickler angedacht ist.
Wie verhindert man von vornherein durch strukturelle Anpassungen im Entwicklungsprozess den Ausschluss von potenziellen Nutzergruppen?
Strukturell kommt es bereits zur erheblichen Änderungen durch die zunehmenden gesetzlichen Bestimmungen auf allen Ebenen. Aber auch der öffentliche Druck führt zu einer steigenden (Selbst-)Verpflichtung zur Gewährleistung gewisser Mindestanforderungen der Barrierefreiheit von digitalen Anwendungen. Wie zuvor bereits angesprochen, ist die Einbettung neuer Anwendungen in bestehendes Framework der großen digitalen Anwendungen ein technisch-strukturelles Problem. Hier gibt nicht die Entwicklung der neuen Anwendung den Prozess und das Projektziel vor, sondern die Entwicklung findet auf einem vorgegebenen Fundament statt. Bietet dieses Fundament nicht die geeigneten Möglichkeiten zur Gewährleistung der Anforderungen zur Barrierefreiheit, kann dies im Nachhinein in Anwendungsentwicklung nur noch mit großem Aufwand realisiert werden. Daher muss mit klugen IT-Designprinzipien gearbeitet werden, welche wie im Falle des Datenschutzes und der IT-Sicherheit, bereits zu frühen Zeitpunkten der Entwicklung die Barrierefreiheit mitdenkt. Das ist nicht nur sozial, es spart auch viel Zeit und Geld.
Sind die rechtlichen Vorgaben zur digitalen Barrierefreiheit ausreichend oder muss die Politik hier mehr tun?
Durch die Richtlinie (EU) 2016/2102 sind seit 2018 alle öffentlichen Stellen in der EU zur Einhaltung der WCAG 2.1 verpflichtet.
Damit ist ein großer Schritt in Richtung Teilhabe und Inklusion im Zuge der digitalen Transformation der Gesellschaft getan und die Durchsetzungs- und Überwachungsstellen in den Bundesländern testen und überwachen die Einhaltung dieser Vorschriften gewissenhaft. Dies betrifft bislang jedoch lediglich den öffentlichen Sektor, also nicht die Privatwirtschaft und damit auch nicht die digitalen Anwendungen, die von und insbesondere für die Privatwirtschaft entwickelt wurden. Das ändert sich – so meine Hoffnung – mit Inkrafttreten des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) am 28.06.2025. Dadurch werden Barrierefreiheitsanforderungen für gewisse Produkte und Dienstleistungen einheitlich festgelegt sowie im Rahmen der Marktaufsicht der Bundesländer überwacht und Verbraucherinnen und Verbraucher können sich bei der Durchsetzung der eigenen Rechte unterstützen lassen. Damit ist nicht nur das Verwaltungsverfahren und der Rechtsweg geklärt, sondern in der politischen Zielsetzung eindeutig klargestellt, dass umfassende Barrierefreiheit in der Informationstechnik erstrebenswert ist und in einer digital-inklusiven Gesellschaft unabdingbar. Mir ist es dabei wichtig, dass dabei das Know-how der bisher für die Marktaufsicht zuständigen Verwaltungseinheiten eng mit dem der in den Länder eigens geschaffenen Durchsetzungs- und Überwachungsstellen für barrierefreie IT verknüpft werden. In Hessen wurde darüber hinaus im Jahr 2021 ein beispielgebendes Landeskompetenzzentrum Barrierefreie IT (LBIT) gegründet, dass öffentliche Stellen und Private mit Expertise für Beratung zur Verfügung steht. Ein Ansprechpartner, der zum Erfolg der Implementation des BFSG beitragen kann.