Ein Zukunftszentrum soll Transformationsprozesse in den ostdeutschen Bundesländern in den Blick nehmen. Welche Erkenntnisse kann aus der Untersuchung dieser Prozesse für die gesamte Bundesrepublik gezogen werden?
So wie die phasen- und stufenweise ablaufenden Prozesse der deutschen Teilung zwischen 1949 und 1989 – in vier Jahrzehnten und über mindestens drei Generationen – zu intensiven, grundstürzenden Transformationen und Entfremdungen auf menschlicher, sozialer, kultureller, politischer und ökonomischer Ebene führten, so braucht der umgekehrte Transformationsprozess der Vereinigung sicher eine ebenso lange Zeitspanne. Der wesentliche Unterschied war jedoch derjenige, dass die „Große Transformation“ (Polanyi) zwischen 1989 und der formalen Vereinigung am 3. Oktober 1990 in einem noch viel größerem, Zeitraffer-artigen Tempo geschah als das Entstehen des „Eisernen Vorhangs“ zwischen 1949 und 1961.
Ebenso wie die Teilung Deutschlands und Europas nicht ein einseitiger Prozess war, so kann es auch umgekehrt nicht einseitig um „Transformationsprozesse in den ostdeutschen Bundesländern“ gehen. Das wäre eine Verzerrung des Blicks und der historischen Realitäten. Transformationsprozesse fanden spiegelbildlich auch in den westdeutschen Bundesländern statt. Dass die Ausprägungen ein erheblich unterschiedliches Ausmaß haben, bedeutet, das hier noch ein Aufholprozess auf der ehemals westlichen Seite stattfinden sollte. Die Systemparameter haben sich für die ehemals ostdeutschen Bürger allerdings viel grundlegender verändert.
Ein Zukunftszentrum als Freiheitszentrum – oder ein Freiheitszentrum als Zukunftszentrum – hat dies zu berücksichtigen. Es darf keinesfalls ein allein „ostdeutsches Zentrum“ werden sondern ein gesamtdeutsches!
Nach wie vor gibt es erhebliche wirtschaftliche und soziale Unterschiede zwischen den westdeutschen und den ostdeutschen Bundesländern. Wie kann und sollte die Politik aus jetziger Sicht dem entgegenwirken?
Die Unterschiede bestehen immer noch in sozialen Ungleichheiten – Stichworte: Löhne, Renten. Sie bestehen wesentlich aber auch darin, dass Ostdeutsche in Führungspositionen der Industrie, der Verwaltung, der Medien und anderer Bereiche noch unterrepräsentiert sind, wenn auch mit durchaus erkennbar zunehmender Tendenz. Ihre erfahrungsgesättigten Sichtweisen auf das Zusammenleben und dessen künftige Gestaltung fehlen daher noch, und westdeutsche Sichtweisen dominieren.
Festgehalten werden muss dabei allerdings, dass es heute, nach mehr als 30 Jahren und damit in zwei bis zweieinhalb Generationen, eine „reine“ ostdeutsche oder westdeutsche Sichtweise nicht mehr gibt. Generationen- und Ost-West-Diskurse haben durchaus stattgefunden und die Perspektiven angenähert – oder aber auch verfestigt.
Desiderate bleiben: das Schaffen größerer Wertschätzung ostdeutscher Lebensleistungen (monetär und ideell); Mentalitätsunterschiede zu akzeptieren; nicht stigmatisierend generell von „Ostdeutschland“ oder „Ostdeutschen“ zu sprechen sondern von einzelnen Bundesländern; und umgekehrt, wenn die Rede von „Deutschland“ ist, in Diskursen, Debatten und in den Medien darunter nicht mehr immer noch gedankenlos die alte BRD zu verstehen.
Wirtschaftliche und soziale Unterschiede müssen durch weitere, verstärkte Industrie-Ansiedlungen sowie Minderung der Transformations-Lasten verringert werden.
Welche Potenziale sehen Sie in den Transformations-Erfahrungen der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern für die künftige Entwicklung der gesamten Bundesrepublik?
Derart existenzielle Umbrüche des gesamten Lebens wie bei Ostdeutschen nach 1989 hatten nur solche Menschen zu bewältigen, die bereits das „Dritte Reich“ und den Zweiten Weltkrieg erleben mussten – und zwar (spätere) Ostdeutsche wie Westdeutsche. Diese grundlegend prägenden Transformations-Erfahrungen durch Erfolge, Misserfolge, Traumatisierungen und deren Verarbeitung und Bewältigung sind fruchtbar und sensibel zu machen für heutige existenzielle Umbrüche; etwa für die Tragödien, die der russische Krieg gegen die Ukraine auslöst, aber auch für die Not in Afrika. Jüngere Generationen, die diese Lebenserfahrungen nicht machten, sollten in ihrem jeweiligen Generationen-Blick mitgenommen werden.
Das Zukunftszentrum soll auch die Perspektive der mittel- und osteuropäischen Nachbarn einbeziehen. Was lässt sich aus den Transformations-Prozessen dort lernen?
Die Große Transformation, der grundstürzende Umbruch von 1989/90, fand nicht nur in (Ost-) Deutschland statt. Da die Welt des Kalten Krieges in zwei Hälften und damit auch Europa in zwei Teile geteilt war, führte ebenso der Einschnitt von 1989/90 zu vergleichbaren europäischen Vereinigungserfahrungen und -problemen. Dies geschah teilweise zeitversetzt und vor dem Hintergrund durchaus unterschiedlicher Kultur- und politischer Geschichten.
Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Transformationen sollten in dem Forschungszentrum erforscht, dargestellt und in den wissenschaftlichen, aber vor allem auch Bürger-Diskurs eingeführt werden. Ein besseres Verständnis füreinander dürfte daraus resultieren. Insofern hat das Zukunftszentrum eine europäisch-einigende Aufgabe.
Vor dem Hintergrund aller dieser Problem-Beschreibungen und genannten Desiderate heraus haben das Leipziger Institut für Heimat- und Transformationsforschung (LIHT)* und die Forschungsstelle Transformationsgeschichte an der Universität Leipzig** der Stadt Leipzig ein Forschungsprojekt vorgeschlagen, das eine umfassende Evaluierung der in Leipzig zur Erinnerung an die Friedliche Revolution vom Herbst 1989 bestehenden Formate (sowie ihre Vorgeschichte) untersuchen und aktualitäts- und zukunftsbezogene Angebote vorschlagen soll.
* https://www.heimat-und-transformation.de
** https://forschungsstelle-transformationsgeschichte.de