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Ein Zukunftszentrum als Knotenpunkt eines europäischen Netzwerks

Wie Transformationserfahrungen genutzt werden können

Carsten Schneider - MdB, Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland Quelle: Marco Prosch Carsten Schneider Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland Bundesregierung 13.02.2023
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Dem Beauftragtem der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider (SPD), ist mit Blick auf ein geplantes Zukunftszentrum für Transformationsprozesse besonders wichtig, "dass die Erkenntnisse einen praktischen Mehrwert haben und einen durchaus streitbaren Diskurs in der gesamten Bundesrepublik zu weiter anstehenden Strukturveränderungen anregen". Dabei geht es ihm auch um die Vielfalt der Perspektiven.







Ein Zukunftszentrum soll Transformationsprozesse in den ostdeutschen Bundesländern in den Blick nehmen. Welche Erkenntnisse können aus der Untersuchung dieser Prozesse für die gesamte Bundesrepublik gezogen werden?
Die Überwindung der Teilung hatte für die Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedliche Folgen. Während sich in Westdeutschland unmittelbar wenig verändert hat, sind die Folgen in Ostdeutschland bis heute in allen Lebensbereichen spürbar. Es gilt, diese Erfahrungen als Wissensspeicher wertzuschätzen und in aktuelle Debatten einzubringen. Diese bislang bestehende Leerstelle soll das Zukunftszentrum auf Vorschlag der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ füllen.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den in Ostdeutschland gemachten Transformationserfahrungen und die Vermittlung der Erkenntnisse im Dialog- und Ausstellungsbereich wird uns helfen, zukünftige, gesamtdeutsche Transformationsprozesse und die Voraussetzungen für ihr Gelingen besser zu verstehen. Daher sind die ostdeutschen Erfahrungen nach der Wiedervereinigung Ausgangspunkt der Arbeit des Zentrums. Der Ansatz ist aber breiter und soll daher vergleichbare Entwicklungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten in den Blick nehmen. Auch die westdeutsche Perspektive ist zentral, denn diese war ja viel heterogener als es heute häufig angenommen wird. Entscheidend für den Erfolg des Zentrums ist ein unabhängiger und kritischer Blick des Wissenschaftsbereiches, der eine breite Einbindung verschiedener Disziplinen zu aktuell interessanten Aspekten der Transformationsforschung ermöglicht und seine Ergebnisse in den Dialog- und den Kulturbereich des Zentrums einbringen muss. Wichtig ist mir, dass die Erkenntnisse einen praktischen Mehrwert haben und einen durchaus streitbaren Diskurs in der gesamten Bundesrepublik zu weiter anstehenden Strukturveränderungen anregen. Aus dem Erinnern und den unterschiedlichen Erfahrungen kann sich auch eine Form der Streitkultur als Gemeinsames entwickeln, die politische Unterschiede konstruktiv übersetzt.

Nach wie vor gibt es erhebliche wirtschaftliche und soziale Unterschiede zwischen den westdeutschen und ostdeutschen Bundesländern. Wie kann und sollte die Politik aus jetziger Sicht dem entgegenwirken?
Viele Teile Ostdeutschlands haben sich hervorragend entwickelt. Der Osten ist ein attraktiver Wirtschaftsstandort, den auch Weltkonzerne wie Intel in Magdeburg für sich entdeckt haben. Die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen. Die Zivilgesellschaft ist aktiv wie nie zuvor und gestaltet ein lebendiges, manchmal streitbares Miteinander vor Ort.

Andererseits existieren gerade im Osten weiterhin große Herausforderungen, die politische Antworten erfordern. Noch immer bekommt ein ostdeutscher Arbeitnehmer im Schnitt mehr als 600 Euro im Monat weniger als ein westdeutscher – in einzelnen Berufsgruppen sogar bis zu 1000 Euro. Entsprechend haben die Bürgerinnen und Bürger weniger Rücklagen und Vermögen. Diese Ungleichheiten müssen überwunden werden. Es geht um eine pragmatische Politik der Sicherheit, des sozialen Ausgleichs und des Respekts. Dafür haben Bund und Länder in den vergangenen Monaten schon viel getan – von der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro bis zum neuen Wohngeld.

Zugleich erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns, dass die längerfristigen Aufgaben im Strukturwandel jetzt nicht unter den Tisch fallen. Klima- und Energiepolitik, Digitalisierung und Demografie brauchen langfristige Antworten und können nur gemeinsam gelöst werden. Unabhängig von der aktuellen Krise bleibt das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für die Politik in Bund und Ländern. Noch immer bedarf es eigener Strategien, um Wirtschaft und Gesellschaft im Osten zu stärken. Auch in der aktuellen Politik der Krisenbewältigung sehe ich die Chance, Zukunftsimpulse für die ostdeutschen Bundesländer zu setzen. Ein gutes Beispiel ist die Raffinerie PCK Schwedt. Wir haben nicht nur schnell für alternative Versorgungswege gesorgt, sondern parallel ein Zukunftsprogramm für die Region beschlossen.

Welche Potenziale sehen Sie in den Transformations-Erfahrungen der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern für die künftige Entwicklung der gesamten Bundesrepublik?
Nach den Veränderungen in Folge der Jahre 1989/1990, befanden sich Deutschland und die östlichen Teile Europas in grundlegenden Veränderungsprozessen. Da ist erst einmal fast alles weggebrochen, was es an Sicherheiten und Strukturen gab. Dieser existenzielle Bruch lässt sich auch nicht mit Verweis auf die enormen Transferleistungen oder den heute erreichten relativen Wohlstand der meisten Menschen einfach übergehen. Die damals gemachten Erfahrungen prägen mehr als eine Generation. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, die Leistungen dieser Jahre anzuerkennen und daraus für den Umgang mit den en Herausforderungen zu lernen. Das Zukunftszentrum hat nicht weniger zum Ziel, als die Demokratie in Deutschland und Europa – vorrangig in den mittelosteuropäischen Ländern – zu stärken. Mit an erster Stelle steht für mich dabei, dass das Zentrum einen Beitrag zur Stärkung der Resilienz der demokratischen Gesellschaft in Transformationsprozessen leistet, indem es die in diesen Umbruchszeiten gesammelten Erfahrungen und Kompetenzen zur Geltung bringt und für heute fruchtbar macht. Hierzu gehört in einem ersten Schritt auch, die Identität der Bundesrepublik – insbesondere der ostdeutschen Bundesländer – als ein maßgeblich von Transformationsprozessen geprägtes Land offenzulegen und die spezifischen Erfahrungen Ostdeutschlands nicht immer gegenüber einer Normerwartung Westdeutschlands verteidigen zu müssen. Diese Erfahrungen haben ihr eigenes Recht und sind ebenso Argument wie die Erfahrungen unserer westdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Es geht nicht um ein gegeneinander von Meinungen, sondern bei aller Unterschiedlichkeit schlicht um Gleichwertigkeit der Biografien und Argumente. 

Die Vermittlung der Ergebnisse der Transformationsforschung im Dialog und Ausstellungsbereich des Zentrums soll die bei weitem nicht selbstverständliche Lebensleistung der ostdeutschen Bevölkerung sichtbar machen und ihr so die Wertschätzung zukommen zu lassen, die sie verdient. Ich bin überzeugt, dass hierdurch ein besseres Verständnis zwischen Ost- und Westdeutschland entsteht. Denn, wie der Name bereits sagt, soll der Blick im Zukunftszentrum in erster Linie nach vorne gerichtet sein.   

Das Zukunftszentrum soll auch die Perspektive der mittel- und osteuropäischen Nachbarn einbeziehen. Was lässt sich aus den Transformations-Prozessen dort lernen?
Bei der Auseinandersetzung mit den Veränderungen der Nachwendezeit darf nicht vergessen werden, dass die friedliche Revolution in der DDR eng mit den Ereignissen in den mittel- und osteuropäischen Ländern verknüpft ist. Wenngleich sich die Transformationserfahrungen auf den ersten Blick ähneln, sind die Auswirkungen auf die gesellschaftlichen und politischen Strukturen in diesen Ländern aber auch in Deutschland teilweise sehr unterschiedlich. Wir merken jetzt entlang der dramatischen Folgen des Krieges in der Ukraine, wie ähnlich die Erfahrungen der direkten Nachwendezeit waren und wie weit wir uns zugleich auseinanderentwickelt haben. Die Länder Zentraleuropas sind bis heute durch, Gesellschaften geprägt, die zu großen Teilen immer noch unter dem Transformationsdruck der damaligen Zeit stehen. Wir erleben eine Ungleichzeitigkeit der Entwicklung, was uns aber eint ist ein unverarbeiteter Umbruch von vor 30 Jahren, in einer Zeit, die erneut schwere Brüche und große Herausforderungen mit sich bringt. Der Blick auf die mittel- und osteuropäischen Länder wird uns helfen, eine bessere Kooperation in einem sich neu sortierenden Europa zu erreichen. Das Zukunftszentrum soll der Knotenpunkt eines europäischen Netzwerks werden, in das sich ein selbstbewusstes Deutschland als gesamtes einbringt. Daher gehören die Deutsche Einheit und die Europäische Transformation als zwingend miteinander verbundene Teile in dieses Zentrum. So werden die gemeinsamen Umbruchserfahrungen und -leistungen in diesen Ländern gewürdigt und zugleich für die Zukunft nutzbar gemacht.

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