Menue-Button
← FACHDEBATTE Interview

Der Osten Deutschlands als ein besonderer Begegnungsraum

Wie Transformationserfahrungen für alle nutzbar werden können

Dr. Marcus Böick -  Akademischer Rat an der Ruhr-Universität Bochum und derzeit Fellow an der Harvard University Quelle: RUB Dr. Marcus Böick Akademischer Rat Ruhr-Universität Bochum 31.01.2023
INITIATOR DIESER FACHDEBATTE
Dipl.- Journ. Thomas Barthel
Founder & Herausgeber
Meinungsbarometer.info
ZUR FACHDEBATTE

Für den Historiker Dr. Marcus Böick sollte ein geplantes Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation "einen intellektuellen Kontrapunkt bzw. ein ernsthaftes Gegengewicht zu immer noch stark westdeutsch-zentrierten Perspektiven bilden". Der Forscher hat seine Promotion unter dem Titel „Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994“ als Buch veröffentlicht.







Ein Zukunftszentrum soll Transformationsprozesse in den ostdeutschen Bundesländern in den Blick nehmen. Welche Erkenntnisse kann aus der Untersuchung dieser Prozesse für die gesamte Bundesrepublik gezogen werden?
Eine institutionelle Bündelung der Forschungsbemühungen verschiedener Disziplinen, insbesondere der Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften, kann uns sicher dabei helfen, deutlich differenzierter über die Umbruchs- und Transformationszeiten zu diskutieren. Viele Mythen und Erzählungen schwirren da noch durch die diversen gesellschaftlichen Resonanzräume und öffentlichen Diskussionen, Debatten und Kanäle. Eine umfassende historische Erkundung dieser Zeitphase hat dagegen gerade mit der Öffnung der Archive und dem Generationenwechsel erst so richtig begonnen. Sicher können die Forscherinnen an einem solchen Ort keine politischen Allheilmittel, einfache Lehren oder allgemeine Großtheorien anbieten. Aber sie können mit ihren verschiedenen Methoden und differenzierten Ansätzen zur konstruktiven Versachlichung aufgeheizter Debatten zwischen Ost und West beitragen, die seit Mitte der 2010er-Jahre wieder infolge der Wahlerfolge insbesondere der AfD in Ostdeutschland an Schärfe gewonnen haben. In diesem Sinne ist eine umfassende wie dauerhafte Förderung dieses Forschungsfeldes, das lange Zeit ein stiefmütterliches Schattendasein gefristet hat, sehr zu begrüßen. Insgesamt sollte ein Zentrum in jedem Falle auch einen intellektuellen Kontrapunkt bzw. ein ernsthaftes Gegengewicht zu immer noch stark westdeutsch-zentrierten Perspektiven bilden – und zugleich auch einen dynamischen Ort für sehr verschiedene Zugänge, Ansätze und Interpretationen bieten. Dass es sich dabei nicht um einen schicken Elfenbeinturm, sondern um ein hin zu Öffentlichkeit und Gesellschaft offenes Forum handeln soll, ist in jedem Fall sehr zu begrüßen.

Nach wie vor gibt es erhebliche wirtschaftliche und soziale Unterschiede zwischen den westdeutschen und ostdeutschen Bundesländern. Wie kann und sollte die Politik aus jetziger Sicht dem entgegenwirken?
Hierfür gibt es sicher keine einfachen Antworten oder pauschale Lösungen. Langfristig fortbestehende Unterschiede und Differenzen zwischen Ost und West erscheinen als eine wichtige, aber sicher nicht als einzige Form von Ungleichheit, mit der sich die deutsche Gesellschaft selbstkritisch beschäftigen sollte. Der oft ernüchternde Blick auf sehr unterschiedliche Vermögensverteilungen oder ungleiche Lebens- und Karrierechancen zeigt dies deutlich. Hier wäre sicher offen zu diskutieren, wie man insgesamt stärker auf Fragen von Diversity eingehen sollte, die zugleich Aspekte wie Geschlechter-, Klassen- oder Gruppenzugehörigkeiten und deren jeweilige Benachteiligungen problematisiert – diese dann aber auch konsequent adressiert. Damit am Ende nicht wieder nur Angehörige ohnehin privilegierter Schichten und Milieus dank ihrer materiellen oder kulturellen Startvorteile im Spiel des Lebens wieder unter sich bleiben – sei es in Academia, in der Politik, der Wirtschaft oder der Kultur. Egal ob Ost-West: Vielfalt sollte dabei nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung verstanden werden – eine Forderung, die sich aber natürlich viel leichter formulieren als umsetzen lässt. Endgültige Lösungen hierfür wird es sicher nicht geben, aber es zählt das fortwährende Bemühen darum und das zivilisierte Streiten darüber, auch wenn das mitunter anstrengend ist.

Welche Potenziale sehen Sie in den Transformations-Erfahrungen der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern für die künftige Entwicklung der gesamten Bundesrepublik?
Diese Formel findet sich derzeit häufig in den politischen Diskussionen oder öffentlichen Debatten, wobei für mich nicht ganz klar ist, was damit genau gemeint ist. Die Verarbeitung von Verlusterfahrungen? Der Drang zu neuen Möglichkeiten?  Der Wunsch nach umfassenden Veränderungen? Dass die vielfältigen Erfahrungen und damit verbundenen Erzählungen aus Ostdeutschland nun stärker Einzug in die verschiedenen Arenen von Politik, Wissenschaft, Kultur und Öffentlichkeit halten, ist natürlich sehr zu begrüßen – da wehte noch bis vor wenigen Jahren ein ganz anderer Wind und ein sehr stark westzentrierter Zeitgeist forderte eher eine schlichte Anpassung an vermeintlich überlegene, überzeitliche Standards. Aber dies gilt etwa gleichermaßen auch für die vielschichtigen Erfahrungen der Menschen mit Migrationshintergrund. Ob sich aus diesen Transformations- und Umbruchserfahrungen entsprechendes Orientierungs-, Handlungs- und Zukunftswissen generieren ließe – darüber dürfte es sich auch in einem solchen Zentrum mit Forscherinnen aus verschiedenen Disziplinen und Ländern zu diskutieren lohnen.

Das Zukunftszentrum soll auch die Perspektive der mittel- und osteuropäischen Nachbarn einbeziehen. Was lässt sich aus den Transformations-Prozessen dort lernen?
In diesem Anliegen liegen nicht nur meines Erachtens eines der größten inhaltlichen wie perspektivischen Potenziale eines solchen Zentrums. Bislang fristen die ostdeutschen Transformationsprozesse einen merkwürdigen Zwischenstatus: Sie gehören weder zur westeuropäischen noch zur osteuropäischen Geschichte, sondern befinden sich in einer etwas prekären Insellage dazwischen. Die Transformationsforschung hat damit den eigentümlichen Sonderstatus der älteren DDR-Forschung quasi mitgeerbt: Meine Kollegin Kerstin Brückweh und ich haben das einmal auf die Formel „weder Ost noch West“ zu bringen versucht. Dass man in Ostdeutschland nach 1990 ein ziemlich eigentümliches wie ambivalentes Projekt eines Nation-Buildings unter postnationalen Umständen probiert hat – das ist eine Lesart, die ich gemeinsam mit Christoph Lorke jüngst vorgeschlagen habe. Und gerade hier könnten neuere Forschungsbemühungen ansetzen, die auf verschiedenen Ebenen weiter gefasste Austauschprozesse und Wechselwirkungen untersuchen: lokaler, regionaler, nationaler, europäischer oder auch globaler Art. Ostdeutschland und Osteuropa stärker aufeinander zu beziehen wäre dabei sicher ein sehr wichtiger Schritt – man dürfte dabei aber auf keinen Fall stehenbleiben. Große Fragen nach dem Neoliberalismus, der Globalisierung oder der Digitalisierung sollten dabei kritisch auf ihre Wirkungen und Implikationen im Kleinen befragt werden. In dieser Hinsicht erscheint der Osten Deutschlands in der Tat als ein besonderer Begegnungsraum.

UNSER NEWSLETTER

Newsletter bestellen JETZT BESTELLEN

■■■ WEITERE BEITRÄGE DIESER FACHDEBATTE

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Marcus Funk
Founder & CEO
Flyacts

Marcus Funk - Founder & CEO Flyacts
Transformation | Wirtschaft

Unterschiede sind kurzfristig und ■ ■ ■

Wie Ost und West voneinander lernen können

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Marcus Funk
Founder & CEO
Flyacts

WERBUNG

EMPFEHLUNGEN FÜR ENTSCHEIDER

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Bodo Ramelow
Ministerpräsident
Freistaat Thüringen

Bodo Ramelow - Ministerpräsident von Thüringen
Transformation | Wirtschaft

Über eine neue industrielle Basis nach ■ ■ ■

Wie Thüringen sich gewandelt hat und stetig wandelt

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Bodo Ramelow
Ministerpräsident
Freistaat Thüringen

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Thomas Horn
Geschäftsführer
Wirtschaftsförderung Sachsen GmbH (WFS)

Thomas Horn - Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Sachsen GmbH (WFS)
Transformation | Wirtschaft

Von Leuchttürmen und Mut zur Selbständigkeit

Was sich aus der ökonomischen Transformation in ■ ■ ■

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Thomas Horn
Geschäftsführer
Wirtschaftsförderung Sachsen GmbH (WFS)

ZUR FACHDEBATTE

■■■ DIESE FACHDEBATTEN KÖNNTEN SIE AUCH INTERESSIEREN

Uwe Rempe

INITIATOR
Uwe Rempe
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info

Dipl.- Journ. Thomas Barthel

INITIATOR
Dipl.- Journ. Thomas Barthel
Founder & Herausgeber
Meinungsbarometer.info

Simone Ulrich

INITIATORIN
Simone Ulrich
Freie Journalistin
Meinungsbarometer.info

ÜBER UNSERE FACHDEBATTEN

Meinungsbarometer.info ist die Plattform für Fachdebatten in der digitalen Welt. Unsere Fachdebatten vernetzen Meinungen, Wissen & Köpfe und richten sich an Entscheider auf allen Fach- und Führungsebenen. Unsere Fachdebatten vereinen die hellsten Köpfe, die sich in herausragender Weise mit den drängendsten Fragen unserer Zeit auseinandersetzen.

überparteilich, branchenübergreifend, interdisziplinär

Unsere Fachdebatten fördern Wissensaustausch, Meinungsbildung sowie Entscheidungsfindung in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Gesellschaft. Sie stehen für neue Erkenntnisse aus unterschiedlichen Perspektiven. Mit unseren Fachdebatten wollen wir den respektvollen Austausch von Argumenten auf Augenhöhe ermöglichen - faktenbasiert, in gegenseitiger Wertschätzung und ohne Ausklammerung kontroverser Meinungen.

kompetent, konstruktiv, reichweitenstark

Bei uns debattieren Spitzenpolitiker aus ganz Europa, Führungskräfte der Wirtschaft, namhafte Wissenschaftler, Top-Entscheider der Medienbranche, Vordenker aus allen gesellschaftlichen Bereichen sowie internationale und nationale Fachjournalisten. Wir haben bereits mehr als 600 Fachdebatten mit über 20 Millionen Teilnahmen online abgewickelt.

nachhaltig und budgetschonend

Mit unseren Fachdebatten setzen wir auf Nachhaltigkeit. Unsere Fachdebatten schonen nicht nur Umwelt und Klima, sondern auch das eigene Budget. Sie helfen, aufwendige Veranstaltungen und überflüssige Geschäftsreisen zu reduzieren – und trotzdem die angestrebten Kommunikationsziele zu erreichen.

mehr als nur ein Tweet

Unsere Fachdebatten sind mehr als nur ein flüchtiger Tweet, ein oberflächlicher Post oder ein eifriger Klick auf den Gefällt-mir-Button. Im Zeitalter von X (ehemals Twitter), Facebook & Co. und der zunehmenden Verkürzung, Verkümmerung und Verrohung von Sprache wollen wir ein Zeichen setzen für die Entwicklung einer neuen Debattenkultur im Internet. Wir wollen das gesamte Potential von Sprache nutzen, verständlich und respektvoll miteinander zu kommunizieren.