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Aufklärung 2.0 und das Wissenschafts-Technik-Industrieparadigma

Was für ein Metaversum spricht - und was dagegen

Prof. Dr. Rolf Kreibich - Wissenschaftliche Leitung und Geschäftsführung, Sekretariat für Zukunftsforschung an der Freien Universität Berlin Quelle: privat Prof. Dr. Rolf Kreibich Wissenschaftliche Leitung und Geschäftsführung Sekretariat für Zukunftsforschung an der Freien Universität Berlin 13.06.2022
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"Die Wahrscheinlichkeit der Erschaffung eines Metaversums für die Menschen halte ich für gering, weil die drängenden Überlebensprobleme in diesem Jahrhundert im Vordergrund stehen werden", sagt Zukunftsforscher Prof. Dr. Rolf Kreibich. Er nennt beeindruckende Fakten und sagt, was jetzt nötig ist.







Der Tech-Investor Matthew Ball prognostiziert ein Metaversum, in dem virtuelle und echte Realität endgültig verschmelzen.
Aufgrund zukunftswissenschaftlicher Forschungen hat sich seit der Entdeckung der empirischanalytischen und formalisierend-algorithmischen Wissenschaftsmethode durch Kepler, Galilei, Newton und Becon an der Wende vom 16. zum 17 Jahrhundert hat der Einfluß des Menschen auf die Natur und auf den Menschen selbst grundsätzlich verändert. Die hieraus sich entwickelnde Technik hat durch die Konstruktion optischer Geräte, die Dampfmaschine, die Elektrizität, die Nutzung fossiler Energien bis zum Computer, Big Data und Ent-wicklung der Künstlichen Intelligenz das Verhältnis des Menschen und sein Umfeld so ex-trem verändert, daß wir schon heute eine Verschmelzung echter und künstlicher Realität vorfinden. Durch Umsetzung jener Techniken in wirtschaftliches, soziales und kulturelles Handeln wurden so enorme Wandlungen hervorgebracht, daß wir seit etwa 300 Jahren von der Herrschaft des WTI Wissenschafts-Technik-Industrieparadigma sprechen. Allein in den letzten 100 Jahren hat sich im Rahmen der Industriegesellschaft die Produktivität in der Landwirtschaft um 4000 %, im Produktionssektor um 4500%, im Bürobereich um 5000 % erhöht. Das heißt grob gesagt, daß für die Leistungen, die in den einzelnen Sektoren heute von einer Arbeitskraft erbracht werden, vor einhundert Jahren 40, 45 und 50 Arbeitskräfte erforderlich waren. Im Zuge dieser Entwicklung ist auch das Realeinkommen der Menschen im Durchschnitt um 3500 % gestiegen, die Lebenszeit wurde um 38 Jahre (Verdopplung) verlängert und die Mobilität (Distanzerweiterung in der Zeiteinheit) um etwa den Faktor 150 gesteigert. Heute ist die Komunikationsfähigkeit und die Zeit über den gesamten Erdball möglich und auf Nanosekunden reduziert. Wir Menschen haben das 300 Jahre als großen Fortschritt gefeiert und diesen Fortschritt so stark internalisiert, daß wir die hierbei stattgefundenen Zerstörungen der Natur und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und des Menschen kaum wahrgenommen haben. Erst seit wenigen Jahrzehnten wird deutlich, daß die tägliche Vernichtung von etwa 150 Tier- und Pflanzenarten, von 34000 Quadratkilometer tropischen Regenwald (ca. 42000 Fußballfelder), von 32000 Quadratkilometer fruchtbaren Ackerlandes oder die Ver-brennung fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) mit 98 Millionen Tonnen CO2-Emissionen zu einem Suizid der Menschheit führen kann (Überschreitung lebenswichtiger Tipping-Points).

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Für wie realistisch schätzen Sie die Erschaffung eines Metaversums ein und was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten Vor- und Nachteile?
Die Wahrscheinlichkeit der Erschaffung eines Metaversums für die Menschen halte ich für gering, weil die drängenden Überlebensprobleme in diesem Jahrhundert im Vordergrund stehen werden. Wir müssen vielmehr konzentriert unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse und technologischen Handlungsmöglichkeiten auf die Zukunftsfähigkeit der Menschheit ausrichten. Das wird nur durch eine Zweite Aufklärung - Aufklärung 2.0 - und eine Nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft möglich sein. Selbst dieser Weg notwendiger neuer Weichenstellungen vor allem in den Bereichen Ökonomie, Ökologie, Finanzsystem, Sozialverhalten und Kultur ist angesichts zahlreicher Tipping-Points nur noch unter größten Anstrengungen zu erreichen. Warum sollten wir in ein hierfür wenig taugliches Metaversum investieren? Zudem gibt es keine Hinweise darauf, daß ein Großteil der Menschen eine solche Verschmelzung von Realität und Virtualität wünscht. Vielmehr gehen die Bedürfnisse dahin, in Zukunft im Einklang mit der Natur und den ökologischen Kreisläufen und in le-benswerten realen Lebensformen zu leben. Hierfür müssen vor allem qualitätsvolle ressour-censparende Lebensweisen mit mehr Zeit-, Kultur- und Freizeitwohlstand entwickelt und praktiziert werden. Wir müssen deshalb unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse und prak-tischen Erfahrungen gerade auch im Zeitalter fortschreitender Digitalisierung, Automatisierung, Nutzung von Big Data, Künstlicher Intelligenz und Mensch-Maschine Kopplung auf diese Ziele konzentrieren. Das WTI-Paradigma des Mehr, Weiter, Höher, Schneller und Virtueller muß gezielt im Sinne von mehr Lebensqualität und Nachhaltiger Entwicklung verändert werden.

Die Idee wird vor allem von Netzgiganten vorangetrieben. Wer sollte ein mögliches Metaversum kontrollieren?
Schon heute beherrschen die Netzgiganten einen Großteil unseres Lebens. Weite Bereiche der Wirtschaft, des Finanzsystems, der Sozial- und Bildungsbereiche sowie der Kommuni-kation werden durch sie dominiert. Der „SPIEGEL" führt in seiner letzten Titelgeschichte aus, daß es einen Zukunftspfad in Richtung Weltherrschaft der Netzgiganten geben wird, der aber gigantische Risiken birgt. Auch ich halte diesen Weg der Zukunftsentwicklung zwar nicht für ausgeschlossen, aber mit hohen Konflikten, zunehmenden Risiken und Ungerech-tigkeiten verbunden. Die Herrschaft der Netzbetreiber wird das menschliche Umfeld noch mehr stören, die Umwelt weiter zerstören und die Grundwerte unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung weitgehend aushöhlen. Sie wird menschendienliche gesellschaftliche Grundlagen im Sinne des Gigantischen der alten WTI-Ordnung steigern mit noch mehr Energie- und Ressourcenverbrauch, Vernichtung von Biodiversität, Klimaveränderungen, Zerstörung des Soziallebens und einer irreversiblen Vermüllung der Stratosphäre und des Weltraums. Es wird einzelne Technologie- und Geldfanatiker elektrisieren und es werden einige Modelle derartiger Lebensperspektiven für kurze Zeit Menschen begeistern. Das könnte für einige Branchen reizvoll sein, etwa im Hinblick auf eine futuristische Mode, eine virtuelle Spieleindustrie oder die Kreierung modernistischer Kunst und Kultur. Trotzdem werden die Treiber einer weiteren Automatisierung unserer Lebenswelt oder der Mensch-Maschine-Kopplung und der Erfassung des Weltraums diese Entwicklung aktiv unterstüt-zen. Aber diese Branchen werden kaum zur Überlebenfähigkeit der Menschheit beitragen, sondern die Entwicklung vielmehr im Rahmen des bisherigen WTI-Paradigmas und der neoliberalen Ökonomie fortschreiben wollen.

Einzelne Computerspiele erfüllen bereits bestimmte Merkmale des Metaversums. Inwieweit könnte die Spiele-Industrie ein standardsetzender Treiber auf dem Weg zu einem Metaversum werden?
Zweifellos hat die Spiele-Industrie schon heute einen Pfad in Richtung Metaversum einge-schlagen. Nur haben wir es hier zunächst nur mit Spielen zu tun und um Phantasien von Spielern in Richtung einer Metawelt. Noch immer handelt es sich dabei aber nicht um erwartbare Welten mit all den irrwitzigen Folgen, die vielfach auch solche Spiele aufweisen. Hier werden Kriege, Mord und Totschlag ebenso eingeführt wie paradiesische Lebensverhältnisse, die kaum als Lebensmodelle in einer realen Welt taugen würden. Allein die Tatsache, daß der Übergang zur Virtualität durch die Spiele bisher zu zahlreichen gewaltsamen Delikten fanatischer Spieler geführt hat, sollte vermuten lassen, daß Kriminalität nach heutigen Maßstäben zur alltäglichen Routine werden könnte. Es ist zu bezweifeln, daß eine solche Perspektive eine friedliche, freiheitliche und demokratische Welt fördern würde, die wir noch immer mehrheitlich wünschen. Hieraus folgere ich, daß die Faszination eines We-ges zum Metaversum über Spiele eine nur kurzfristige und kurzatmige Perspektive darstellen könnte und wenig zu einer lebenswerten Welt des Menschen beitragen wird.

Second Life gilt als ein Prototyp oder Vorläufer des Metaversums. Warum ist diese Plattform nach einem enormen Hype wieder aus dem Blick der breiten Öffentlichkeit gerückt?
Soweit hierzu verläßliche Untersuchungen vorliegen, haben die zunehmenden weltweiten Krisen und Probleme zu einer weitgehenden Ernüchterung geführt und viele Menschen aus den Traumwelten eines Metaversums wieder auf den realen Boden des Daseins zurückgeführt. Immer deutlicher wird die Gefährdung der realen Existenz angesichts der massiven Migrationsströme, des Hungers und der Armut von über 880 Millionen Menschen, der weltweiten Pandemie-Wellen, der großen Finanzkrisen und der zahlreichen Kriege in Syrien, Libyen, Jemen, Irak, Myanmar und der Ukraine. Das Eintauchen in ein Metaversum wird vor diesem Hintergrund mehr und mehr zu einer großen Fatamorgana für die Lebensweise des Menschen auf dieser Erde. Obwohl spätestens seit der UN-Konferenz von Rio de Janeiro im Jahr 1992 durch die Rio-Deklaration und die Agenda 21 reale Strategien und Maßnahmen als gangbaren Weg in eine reale zukunftsfähige Lebensperspektive vorgezeichnet wurden, sind erst in den letzten Jahren sichtbare Fortschritte des Handelns in Richtung Überwindung der neoliberalen Ökonomie und des WTI-Paradigmas erzielt worden. Immer mehr Menschen verstehen heute erstmals, daß grundlegende Verbesserungen der weltweiten und der eigenen Lebensverhältnisse eng miteinander vernetzt sind. Hierzu bedarf es in Zukunft weiterer wissensachaftlicher Erkenntnisse und mehr noch neuer wissenschaftsbasierter Technologien – gerade auch im Rahmen von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz – zur Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklung und der konsequenten Gemeinwohlorientierung. Viele Menschen verstehen derzeit erstmals, daß die UN-Agenda 2030 und die Realisierung der Sustainable Development Goals aus dem Jahr 2015 den einzigen realistischen Weg aufzeigen, wie wir in eine zukunftsfähige Zukunft gelangen und die Überschreitung von Tipping-Points vermeiden können.

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