Der Einzelhandel schwankt nach einem Jahr Pandemie zwischen Verzweiflung, Entsetzen und mutiger Suche nach digitalen Alternativen. „Zahlreiche Händler sind der Herausforderung sinkender Kundenfrequenzen mit Kreativität begegnet“, sagt Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer Handelsverband Deutschland (HDE), in unserer Fachdebatte. Viele hätten innovative digitale Lösungen gefunden, um Kunden weiterhin zu erreichen. Zugleich sei eine erfolgreiche Digitalisierung ein langer und kostenintensiver Prozess. Daher seien 60 Prozent der mittelständischen Einzelhändler online bislang nicht präsent.
Damit verschärfen sich bekannte Probleme dramatisch. So hat Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages beobachtet, dass der Einzelhandel durch den boomenden Onlinehandel bereits in vergangenen Jahren immer mehr unter Druck geraten ist. Das „hat sich mit den Schließungen der Lockdown-Phasen allerdings nochmals verstärkt.“ Und während größere Einzelhändler – wie Helmut Dedy bemerkt - schon länger gleichzeitig aufs Online- und Filialgeschäft, also einen Multi-Channel-Vertrieb setzen, haben es kleinere Einzelhändler und Fachgeschäfte schwerer. Schließlich stehen dort der direkte Kundenkontakt und die Beratung im Vordergrund. Nun würden auch viele dieser Geschäfte in den Online-Handel einsteigen. „Die Städte haben ein großes Interesse am Erfolg solcher Strategien. Denn in den Innenstädten sind viele kleine Einzelhändler vertreten, die der Stadt ein unverwechselbares Gesicht geben.“
Christoph Wenk-Fischer, Hauptgeschäftsführer Bundesverband E-Commerce und Versandhandel (bevh), geht mit dem stationären Einzelhandel und seinen Versäumnissen hingegen hart ins Gericht: „25 Jahre Abwarten lassen sich nicht so einfach aufholen! Die "katalytische Wirkung" der Corona-Krise legt dieses Defizit gerade gnadenlos offen.“ Die Prozesse im E-Commerce seien ganz andere sind als im traditionellen Einzelhandel, schließlich denke keine Kundin, kein Kunde in sogenannten "Vertriebskanälen", sondern sie nutzten selbstverständlich die Möglichkeiten zum Einkaufen, die am besten zum eigenen Leben, zum Arbeiten und der Freizeit passen. Daher ist Christoph Wenk-Fischer auch gegen direkte Förderung, denn finanzielle Zuschüsse seien marktwirtschaftlich und politisch das falsche Signal. „Es würde damit das Nichtstun einiger in den letzten 25 Jahren belohnen, während andere mit erheblichem eigenem Aufwand und der Reinvestition von Erlösen den Hebel in Richtung Digitalisierung schon umgestellt haben.“
Carolin Reuther von der CityInitiative Bremen Werbung berichtet hingegen, dass der stationäre Handel sich seit einigen Jahren verstärkt mit der Herausforderung der Digitalisierung und dem Aufbau von digitalen Vertriebskanälen auseinandersetzt. Nun sieht sie durchaus Förderbedarf: „Vor allem mit der Finanzierung eines individuellen Beratungsangebots und finanziellem Support, um auch die Basis für Digitalisierungsprozesse wie ein Warenwirtschaftssystem aufsetzen zu können.“ Einige Förderungen seien auf den Weg gebracht, weitere müssten folgen, denn die Digitalisierung sei kein Prozess, der von jetzt auf gleich abgeschlossen ist. Auch HDE- Hauptgeschäftsführer Stefan Genth bekräftigt, dass viele mittelständische Handelsunternehmen gerade in der aktuellen Krise nicht mehr über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, um in die Digitalisierung zu investieren. Da sie unverschuldet durch die Corona-Krise und ihre Auswirkungen in Not geraten seien, benötigten sie staatliche Hilfe. „Dazu braucht es einen Digitalisierungsfonds in Höhe von 100 Millionen Euro, der Potenziale identifiziert und die Umsetzung von Maßnahmen begleitet und fördert.“
In Österreich stellt sich die Lage für die Händler ganz ähnlich dar. Rainer Will, Geschäftsführer beim Verband österreichischer Handelsunternehmen, bezeichnet die Covid-Krise als Urknall der Digitalisierung und Turboboost für den eCommerce in allen Waren- und Altersgruppen. Er nennt Zahlen: „Im Corona-Jahr 2020 wird der eCommerce hierzulande rund 8 Milliarden Euro erwirtschaften und am Jahresende erstmals einen eCommerce-Anteil am gesamten Einzelhandelsumsatz von mehr als 11 Prozent erreichen.“ Die Zahl der heimischen Online-Shops sei auf über 13.500 angestiegen. Das Problem sei, dass 54 Prozent der Ausgaben im Onlinehandel zu ausländischen Anbietern abfließen, lediglich 46 Prozent (rund 3,7 Milliarden Euro) bleiben bei heimischen Webshops.
Nicht zuletzt deswegen plädiert Iris Thalbauer, Geschäftsführerin der Wirtschaftskammer Österreich, Bundessparte Handel: „Wissen, Bildung, Information sollten durch den Staat zur Verfügung gestellt werden und somit den Händlern ein Werkzeug gegeben werden.“ Sie verweist auch auf die Potenziale, die in Kooperationen und Verbundlösungen liegen, insbesondere bei der Logistik. Die Internetgiganten verfügten meist über ein einziges Lager, man erhalte verschiedene Produkte gesammelt aus einer Hand. „Kooperationen in dieser Hinsicht würden die Kundenzufriedenheit steigern und können auch die Regionalität betonen.“
In der Schweiz sieht Patrick Kessler, Geschäftsführer beim HANDELSVERBAND.swiss, ganz ähnliche Tendenzen. Und sicher lassen sich seine weiteren Beobachtungen auch auf Teile des gesamten deutschsprachigen Raum übertragen. Etwa, wenn er von einer Relokalisierung und Entschleunigung / Ökologisierung des Konsums dank Corona berichtet: „Vor Ort beim einheimischen Händler einzukaufen hat an Wert gewonnen.“ Nachhaltigkeit könnte aus seiner Sicht einer der großen Gewinner der Coronakrise sein. Aber dort könne und werde die Digitalisierung ebenfalls wirken. Die Digitale Kommunikation werde fester Bestandteil auch des reinen stationären Handels werden. „‘Ohne digital‘ geht morgen gar nicht mehr.“