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Videosprechstunden als Alternative und Ergänzung in die Regelversorgung

Welche Vorteile und Grenzen Videosprechstunden in der Logopädie haben

Dagmar Karrasch, Präsidentin des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie e.V. (dbl) Quelle: dbl/ Jan Tepass Dagmar Karrasch Präsidentin Deutscher Bundesverband für Logopädie (dbl) 28.05.2020
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Aus Sicht von Logopädie-Verbands-Präsidentin Dagmar Karrasch sollten "Therapeut/in und Patient/in gemeinsam prüfen, ob Teile der Diagnostik oder Therapie über Videobehandlung erbracht werden können oder sollten." Sie erklärt, in welchen Fällen Videosprechstunden einen wichtigen Beitrag zur Therapie leisten können.







Anbieter von Telemedizin-Lösungen Video verzeichnen vor allem im Bereich der Videosprechstunden in der aktuellen Corona-Krise einen starken Nachfrage-Zuwachs. Welchen Beitrag können Videosprechstunden zur Entlastung des Gesundheitswesens leisten?
Der Beitrag von Videobehandlungen zur Entlastung des Gesundheitswesens geschieht auf ganz unterschiedliche Weise:

1. Videobehandlungen tragen dazu bei, die Fortsetzung der notwendigen logopädischen Versorgung zu sichern und gleichzeitig den physischen Kontakt zwischen Patient und Therapeut zu vermeiden. Somit können wir Infektionen verhindern, die andernfalls zu einer Überlastung stationärer Einrichtungen beitragen könnten.

2. Logopädische Diagnostik und Therapie finden grundsätzlich bei medizinischer Notwendigkeit statt. Werden diese Interventionen nicht oder erst verspätet begonnen, kann dies zu einer Verschlechterung der Befundlage mit anschließend längerer (d.h. auch kostenintensiverer) Behandlungsdauer führen, im schlimmsten Fall auch zu einer Verschlechterung der Symptomatik bis hin zu lebensbedrohlichen Situationen, die wiederum zu einer Belastung stationärer Einrichtungen führen können.

3. Werden laufende Behandlungen unterbrochen, besteht auch die Gefahr, dass bereits erzielte Fortschritte verloren gehen, was wiederum zu einer verlängerten Behandlungsdauer führen kann. Im Fall von Entwicklungsstörungen bei Kindern bergen längere Pausen die Gefahr, die sogenannten sensiblen Phasen, in denen ein Kind bereit für einen nächsten Entwicklungsschritt wäre, ungenutzt verstreichen lassen zu müssen. Diese Entwicklungsschritte müssten dann anschließend erneut angeregt werden.

4. Videobehandlung kann auch für Menschen in zeitlich herausfordernden Lebensumständen (Berufstätige mit flexiblen Arbeitszeiten und/oder wechselnden Einsatzorten, Alleinerziehende, Mobilitätseingeschränkte etc.) eine Möglichkeit schaffen, Therapietermine regelmäßig wahrzunehmen, etwa weil Wege in die Praxis entfallen.

5. Videobehandlung kann – wenn sie von Patienten als attraktiver empfunden wird - dazu beitragen, vorhandene Hürden zu überwinden, notwendige Therapien frühzeitig in Anspruch zu nehmen, bevor Folgeschäden entstehen. Auch ließen sich „negative“ Therapieverläufe und Therapieabbrüche reduzieren, die aus einer in den Kontextfaktoren begründeten Überforderungssituation entstehen.

6. Es gibt einen nachgewiesenen Fachkräftemangel, der zu langen Wartelisten in logopädischen Praxen führt. Hiervon betroffen sind auch Menschen mit akuten Erkrankungen (etwa nach Operationen oder Schlaganfällen), die einer hochfrequenten (z.B. täglichen) Versorgung bedürften oder im Hausbesuchssetting versorgt werden müssen. Hier könnte die Möglichkeit einer Videobehandlung dazu beitragen über ressourcenschonenderes Arbeiten Versorgungsengpässe zu reduzieren.

Für welche Krankheitsbilder und Patientenkreise sind Videosprechstunden besonders gut geeignet?
Welche Störungsbilder für Videobehandlungen in der Logopädie besonders geeignet sind, ist leider noch sehr wenig erforscht, auch, da es bisher nur in wenigen Einzelfällen erlaubt war, über Videobehandlungen therapeutisch zu versorgen. Sehr gute Erfahrungen liegen jedoch im Bereich der orofazialen Störungen, Störungen der Sprachentwicklung, des Stotterns, Autismus, in der Stimmtherapie und bei Logopädie nach einem Schlaganfall vor, etwa bei Aphasie und Dysarthrie.

Entscheidender als die Betrachtung von Krankheits- bzw. logopädischen Störungsbildern sind persönliche und Kontextfaktoren der Betroffenen, die die Gelingensbedingungen beeinflussen. Hier sind zu nennen: das Vertrauen und die Bereitschaft sich auf die Behandlung in diesem Setting einzulassen, die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auf einen Bildschirm zu fokussieren, die persönliche technische Affinität und technische Voraussetzungen vor Ort, Einflüsse durch das Umfeld (hemmend oder fördernd).

Im Zuge der Corona-Krise wurden Beschränkungen für Videosprechstunden gelockert. Wie sollten die Regeln nach einem möglichen Ende der Corona-Krise gestaltet werden?
Unser Gesundheitssystem sollte sich meines Erachtens ressourcen– und patientenorientierter gestalten: Das bedeutet in diesem Fall, dass Therapeut/in und Patient/in gemeinsam prüfen, ob Teile der Diagnostik oder Therapie über Videobehandlung erbracht werden können oder sollten. Es muss m. E. eine Freiwilligkeit auf beiden Seiten bestehen und - wie es immer schon praktiziert wird - der Therapieprozess am Patienten orientiert und partizipativ geplant, umgesetzt und bei aktuellem Bedarf gemeinsam nachjustiert werden. Sicher gibt es für uns einzelne wenige Bereiche, in denen Videobehandlungen ungeeignet oder gar kontraindiziert sind und daher ausgeschlossen bleiben sollten, etwa Schluckversuche in der Dysphagie-Therapie. Die Entscheidung dafür oder dagegen muss therapeutisch indiziert und an der Versorgung und den jeweils Betroffenen ausgerichtet sein: Sowohl für multimorbide Patienten, aber auch für Menschen mit Care-Verantwortung und Menschen, die in Landstrichen wohnen, in denen kaum Gesundheitsversorgung vor Ort stattfinden kann, sollte diese Möglichkeit der Leistungserbringung zukünftig in der Regelversorgung möglich werden. Nicht als Ersatz, aber als Alternative und Ergänzung, ähnlich dem Blended learning – nur eben in der Gesundheitsversorgung unter gewissenhafter Prüfung der therapeutischen Indikation.

Meine Sicht als Therapeutin vorweg: Wir erbringen unsere Leistungen gern möglichst effizient, am Patientenwohl orientiert und ressourcenorientiert – diese ergänzende zukunftsorientierte Behandlungsmöglichkeit sollte daher unbedingt erhalten, weiterentwickelt und erforscht werden. Dass sie zum Teil wesentlich aufwändiger für den Therapeuten ist, etwa was das technische Equipment und die Vor- und Nachbereitung betrifft, sollte in die zukünftige Vergütung mit einfließen.

Nach dem MLP-Gesundheitsreport aus dem Jahr 2019 kamen hatten nur 10 % Prozent der Ärzte Videosprechstunden im Angebot oder in Planung und nur für 33 % der Patienten kämen solche Angebote in Frage. Kann die Corona-Krise helfen, die Skepsis gegenüber solchen Angeboten zu verringern?
Meines Erachtens ja, weil es viele wahrscheinlich nie probiert hätten  und noch länger im „Denken über“ geblieben wären, ohne sich korrektiven Erfahrungen aussetzen zu müssen, die wir nun alle machen durften/mussten, um dem Versorgungsauftrag so gut wie möglich nachzukommen.

Auch haben viele Anbieter durch ihre zunächst kostenfreien Probeangebote während der Corona-akut-Situation dazu beigetragen, die Hemmschwelle herabzusetzten, sich mit vorhandenen Angeboten zur Videotherapie auseinanderzusetzen.

Welche Chancen und Herausforderung für die Arbeit mit digitalen Daten entstehen durch den häufigeren Einsatz von Telemedizin-Lösungen?
Natürlich könnten wir über die Nutzung neue und mehr Daten generieren. Daten sind gerade im Gesundheitsbereich sehr nützlich, weil wir darüber neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen können. Gleichzeitig sind die meisten dieser Daten auch besonders schützenswert, da sie persönliches, häufig dauerhaft konsequenzenreiches und zum Teil auch sehr intimes Wissen über mich preisgeben. Ich empfinde es als sehr wertvoll, dass wir nach unseren gesellschaftlichen Standards suchen und diesen wichtigen Bereich nicht Ländern wie den USA oder China überlassen, die kulturell diesbezüglich ganz anders agieren. Ich bin daher froh, dass in diesem Diskurs gesellschaftlich, aber vor allem politisch endlich Fahrt aufgenommen wurde.

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