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Psychotherapie im persönlichen Kontakt bleibt der „Goldstandard“

Wann Videosprechstunden helfen - und warum die 20-Prozent-Regel dauerhaft überprüft werden sollte

Gebhard Hentschel - Bundesvorsitzender DPtV Deutsche PsychotherapeutenVereinigung Quelle: DPtV / Holger Groß Gebhard Hentschel Bundesvorsitzender DPtV Deutsche PsychotherapeutenVereinigung 20.05.2020
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"Psychotherapeut*innen haben sich in der Corona-Krise intensiv den Möglichkeiten psychotherapeutischer Videositzungen zugewandt", erklärt Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender DPtV Deutsche PsychotherapeutenVereinigung. Solche Sitzungen haben ihre Vorteile - unter bestimmten Voraussetzungen könnten sie auch dauerhaft einen Teil der Therapie werden.







Anbieter von Telemedizin-Lösungen Video verzeichnen vor allem im Bereich der Videosprechstunden in der aktuellen Corona-Krise einen starken Nachfrage-Zuwachs. Welchen Beitrag können Videosprechstunden zur Entlastung des Gesundheitswesens leisten?
Psychotherapeut*innen haben sich in der Corona-Krise intensiv den Möglichkeiten psychotherapeutischer Videositzungen zugewandt. In einer Umfrage der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) im April 2020 mit 4466 Psychotherapeut*innen gaben 77 Prozent an, Videositzungen in ihren Praxen bei durchschnittlich 40 Prozent der Patient*innen einzusetzen. 95 Prozent berichteten, diese mit Beginn der Corona-Pandemie etabliert zu haben. Video als zusätzliches Behandlungssetting ermöglicht Patient*innen und Psychotherapeut*innen, den Vorgaben zur Kontaktvermeidung und dem individuellen Schutzbedürfnis nachzukommen.* Ansteckung durch das Coronavirus auf dem Weg zur Praxis, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in der Praxis können so vermieden werden.

Für welche Krankheitsbilder und Patientenkreise sind Videosprechstunden besonders gut geeignet?
Psychotherapeutische Videositzungen sind für Patient*innen geeignet, die nicht in die Praxis kommen können. Gründe können ein körperliches Handikap, ein beruflich bedingter Auslandsaufenthalt, die Betreuung von Angehörigen oder eine gesundheitliche Gefährdung sein. Videositzungen mit neuen Patient*innen können derzeit auch zur ersten Kontaktaufnahme und Klärung der Fragestellung eingesetzt werden. Bei einer laufenden Psychotherapie können psychotherapeutische Prozesse in Videositzungen weitergeführt und Patient*innen stabilisiert werden.

Im Zuge der Corona-Krise wurden Beschränkungen für Videosprechstunden gelockert. Wie sollten die Regeln nach einem möglichen Ende der Corona-Krise gestaltet werden?
Noch liegt die Corona-Pandemie nicht hinter uns. Deshalb halten wir es für dringend notwendig, die erweiterten Maßnahmen der Videobehandlung über den 30. Juni 2020 hinaus für weitere drei Monate zu verlängern. Psychotherapie im persönlichen Kontakt bleibt aber der „Goldstandard“. Zwei Drittel aller befragten Psychotherapeut*innen schätzen die Wirksamkeit von Videositzungen im Vergleich zum persönlichen Kontakt als schlechter ein, ein Drittel bewertet sie als gleich gut, ein Prozent sogar für wirksamer. Die psychotherapeutischen Videositzungen haben also einen hohen Stellenwert. Der Ausschluss der Videobehandlung bei der Akutbehandlung und der Gruppenpsychotherapie ist deshalb nicht gerechtfertigt und sollte zügig geöffnet werden. Die 20-Prozent-Begrenzung jeder Leistungsform der Videobehandlung in einer psychotherapeutischen Praxis gehört ebenfalls auf den Prüfstand.

Nach dem MLP-Gesundheitsreport aus dem Jahr 2019 kamen hatten nur 10 % Prozent der Ärzte Videosprechstunden im Angebot oder in Planung und nur für 33 % der Patienten kämen solche Angebote in Frage. Kann die Corona-Krise helfen, die Skepsis gegenüber solchen Angeboten zu verringern?
Unsere Umfrage zeigt einen erheblichen Zuwachs an Erfahrungen mit der Videobehandlung. 57 Prozent der Befragten können sich vorstellen, auch nach der Corona-Pandemie Videositzungen einzusetzen. 19 Prozent lehnen das ab. Ein Viertel der Psychotherapeut*innen hat sich noch keine Meinung gebildet. Selbstverständlich muss auch auf Seiten der Patient*innen eine ausreichende Vertrautheit mit dem Medium vorhanden sein. Technisches Equipment, ausreichende Netzabdeckung und ein geschützter Gesprächsraum sind die Voraussetzung für eine gelingende Videobehandlung und noch längst keine Selbstverständlichkeit.

Welche Chancen und Herausforderung für die Arbeit mit digitalen Daten entstehen durch den häufigeren Einsatz von Telemedizin-Lösungen?
Gerade jetzt zeigen sich die Chancen einer Flexibilisierung des Behandlungsangebotes. Selbstverständlich muss der Datenschutz durch zertifizierte Videoanbieter gewährleistet und für den Patienten ein ruhiger und sicherer Raum im häuslichen Umfeld gegeben sein. Eine Gefahr sehen wir in Videositzungen durch große kommerzielle Anbieter, die zu einer Fragmentierung psychotherapeutischer Prozesse führen. Hier folgt dem evtl. noch persönlichen Erstgespräch vor Ort die Videobehandlung durch einen anderen Behandler an einem anderen Ort, dessen Qualifikation für den Hilfesuchenden nicht nachvollziehbar ist und zu dem keinerlei persönlicher Kontakt hergestellt werden kann. Solche Modelle werden schon jetzt in Selektivverträgen propagiert. Wir halten es für wesentlich, Indikationsstellung, Behandlungsplanung und die anschließende Psychotherapie durch gut ausgebildete Psychotherapeut*innen in personeller Kontinuität zu erbringen. Ein adäquates Eingehen auf die Kontaktbedürfnisse der Patient*innen sowohl in „normalen“ Zeiten als auch in einer von Kontaktbeschränkungen geprägten Pandemie-Situation sollte das Ziel sein.

 


* https://www.deutschepsychotherapeutenvereinigung.de/gesundheitspolitik/aktuelle-meldungen/news-bund/news/persoenlicher-kontakt-bleibt-goldstandard-in-psychotherapie/

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