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Interview01.03.2021

Probleme in der Pandemie als Symptom einer jahrelangen Vernachlässigung

Warum in einem ernüchternden Befund aber eine große Chance liegt

Ann-Kristin Müller - Germanistin und Pädagogin, Lehrstuhl Fachdidaktik Deutsch Primarstufe, Universität des Saarlandes Quelle: Tania Kraft Ann-Kristin Müller Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität des Saarlandes
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Dipl.- Journ. Nikola Marquardt
Founder & Herausgeberin
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"Deutschland steht insgesamt noch am Anfang des Weges in die Digitalisierung", sagt die Forscherin Ann-Kristin Müller von der Universität des Saarlandes mit Blick auf die Schulen hierzulande. Immerhin sei jetzt klar, wo es hingehen müsse. Und klare Forderungen an die künftige Ausgestaltung der Schulen gibt es auch.





Aus verschiedenen Regionen Deutschlands wird über Probleme mit den digitalen Schulplattformen berichtet. Wie weit ist das deutsche Bildungswesen ganz grundätzlich auf dem Weg in die Digitalisierung?
Die mehr oder weniger gut funktionierenden Schulplattformen sind lediglich das Symptom einer jahrelangen Vernachlässigung von praxistauglichen, methodisch-didaktisch sinnvollen und ausreichend erprobten digitalen Strukturen im Bildungsbereich. Die Bandbreite im Bereich der Digitalisierung von Bildungseinrichtungen und -inhalten in Deutschland ist enorm. Nicht nur zwischen den Bundesländern zeigen sich deutliche Unterschiede, sondern bereits die Landkreise, Städte und sogar benachbarte Schulen sind nicht vergleichbar. Die Gründe für diese strukturellen Unterschiede sind vielfältig – sie sind technologisch, logistisch, finanziell erklärbar – grundlegend dafür war ein mangelndes Bewusstsein in Politik und Verwaltung für die Potenziale und Charakteristika einer digitalen Gesellschaft. In der Akzeptanz dieses ernüchternden Befunds liegt aber gleichzeitig (glücklicherweise) die große Chance für eine echte Transformation des Bildungswesens: Jetzt ist wirkliche Veränderung möglich und nötig! Meine Antwort auf die Frage lautet also: Deutschland steht insgesamt noch am Anfang des Weges in die Digitalisierung, erkennt aber zunehmend, wohin er führen muss.

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Nach Medienberichten setzen Eltern nun auch vermehrt auf kommerzielle digitalen Bildungs- und Nachhilfeangebote. Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich daraus?
Die Motivation der Eltern ist nachvollziehbar: Sie versuchen, ihren Kindern bestmöglich durch die Zeit ohne Präsenzunterricht zu helfen und greifen auf Angebote zurück, die eben jene Hilfe versprechen. Abgesehen von der Intention der Eltern, sind mit dieser Frage grundlegende Fragen verknüpft: 1) Warum tun die Eltern es überhaupt? Kommen von der Schule evtl. zu wenig Impulse für das Lernen zuhause? 2) Verfügen die Eltern über die nötigen Beurteilungskompetenzen, um methodisch-didaktisch hochwertige, altersgerechte Angebote auszusuchen? 3) Nicht alle Eltern haben die finanziellen Mittel, um ihren Kindern diese Unterstützung zukommen zu lassen. Diese Ungleichheit birgt mit Blick auf die Ziele einer digital vernetzen Welt (vgl. Dagstuhl-Erklärung 2016, 3) langfristige Konflikte. Die Auswahl der verbindlichen Bildungsinhalte sollte daher weiterhin bei den Lehrpersonen liegen, um die Vergleichbarkeit, die fachdidaktische Legitimation und die Qualität sicherzustellen. Ein kommerzielles Lernangebot kann das institutionalisierte, schulische Lernen dabei allerdings durchaus sinnvoll ergänzen, sofern es an wissenschaftlichen Standards ausgerichtet ist.

ARD und ZDF haben ihre Schulfernseh- und Mediathek-Angebote massiv ausgebaut. Welchen Beitrag können solche Angebote in einer Homeschooling-Phase leisten?
Das Fernsehen als populärkulturelle Sozialisationsinstanz könnte einen großen Beitrag leisten. Dieser Ansatz ist interessant, da er niedrigschwellig und pragmatisch ist und nahezu allen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung steht. Im Gegensatz zu Online-Angeboten hat das herkömmliche Fernsehen allerdings den großen Nachteil, dass man die Inhalte nur schwer differenzieren und individualisieren kann. Auch sind die Sozialformen weniger variabel – hier haben kollaborative Tools, die die Kinder und Jugendlichen online nutzen, die Nase eindeutig vorn. Zudem ist zu bedenken, dass das herkömmliche Fernsehen zwar noch eine große Rolle in der Medienausstattung von Familien spielt, bei der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen wurde es       aber längst von internetfähigen Endgeräten abgelöst (vgl. KIM-Studie 2018, 8). Streamingangebote könnten sich in diesem Bereich als attraktive Alternative zum herkömmlichen Fernsehprogramm etablieren: Individualisierbare Streaming-/ Abo-Varianten der Sender für Schulen, Klassen oder Familien kombiniert mit den pädagogischen Inhalten des „Schulfernsehens“ würden eine sinnvolle Brücke schlagen zwischen der Medienausstattung, den Rezeptionsgewohnheiten und der Integration methodisch-didaktischer Prinzipien in die „Schulfernseh-Angebote“.  

Was erwarten Sie von der Politik hinsichtlich einer dauerhaften Etablierung von digitalen Elementen in der Schulbildung - auch über die Pandemie hinaus?
Ich erwarte, dass sich die Politik die guten Ansätze, die sich während Corona entwickelt haben, erkennt, unbürokratisch aufgreift und eine Verstetigung dieser Initiativen unterstützt. Zudem sollten der Ausbau technischer und technologischer Infrastruktur in den Schulen und das Einplanen zusätzlicher personeller Kapazitäten selbstverständlich sein, damit sich die Lehrpersonen der bestmöglichen Förderung ihrer Schülerinnen und Schüler widmen können. Außerdem ist es unerlässlich, digitale Elemente als integrativen Bestandteil der Lehrerbildung (von der Universität, über das Referendariat bis zur berufsbegleitenden Fortbildung) in den Curricula zu verankern. Um eine echte Verzahnung von digitalen Elementen und methodisch-didaktisch Grundsätzen zu erreichen, müssen Inhalte, Methoden und Technologien Hand in Hand gehen. Um altersgerechte, differenzierte und modularisierbare Lehr-/ Lernszenarien perspektivisch auch in den Präsenzunterricht zu integrieren, bedarf es zudem hochwertiger, erprobter und wissenschaftlich fundierter digitaler Materialien, die die Lehrpersonen nutzen können.

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