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Priorität muss der Ausbau eines attraktiven ÖPNV haben

In ländlichen Regionen sind Verknüpfungen von Fahrrad und ÖPNV gute Alternative zum Auto

Michael Müller-Görnert, verkehrspolitischer Sprecher des VCD, Klimaschutz und Luftreinhaltung im Verkehr; VCD Auto-Umweltliste Quelle: © VCD/Katja Täubert Michael Müller-Görnert Referent Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD) 29.06.2022
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Simone Ulrich
Freie Journalistin
Meinungsbarometer.info
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"Obwohl Deutschland mit dem Klimaschutzgesetz verbindliche Vorgaben für den Verkehr geschaffen hat, fehlen Maßnahmen zur Umsetzung bei der Verkehrsplanung komplett. Noch immer werden in Deutschland Straßen geplant und neugebaut. Zusätzliche Straßen erzeugen zusätzlichen Autoverkehr und damit noch mehr CO2-Emissionen.", sagt Michael Müller-Görnert. Er ist verkehrspolitischer Sprecher des Verkehrsclubs Deutschland e.V. (VCD).







Welche Rolle spielt die Digitalisierung bei der nachhaltigen Mobilitäts- und Verkehrsplanung?
Per Smartphone Tickets buchen, Fahrten bündeln und intermodal unterwegs sein – die Digitalisierung birgt große Chancen, die Verkehrswende voranzutreiben. Seit fast jede*r ein Smartphone hat, wirkt sich die Digitalisierung auf unsere alltäglichen Mobilitätsentscheidungen aus. Es ermöglicht uns, Wege mit verschiedenen Verkehrsmitteln zu planen, zu verknüpfen und zu vergleichen, Fahrpläne zu checken und Tickets zu buchen, das nächste Leihfahrrad zu finden oder das Carsharing-Auto aufzuschließen.

Doch nicht nur das Informationsangebot und der Zugang zu traditionellen Verkehrsmitteln wie Bus und Bahn ändert sich durch die Digitalisierung. Es entstehen auch neue Mobilitätsangebote. Vielerorts können bereits per digitaler App Fahrräder, E-Roller und Car-Sharing-Fahrzeuge gebucht und bezahlt werden. Derzeit vor allem auf Metropolen beschränkt, sorgen sogenannte On-Demand-Angebote mit Shuttle-Bussen dafür, Fahrten von Personen, die auf ähnlichen Routen unterwegs sind, zu bündeln. Diese Ridepooling- oder Ridesharing-Angebote laufen jedoch meist noch als Pilotprojekte. Ihr Ziel ist: Wege vieler Menschen zu vernetzen und damit den Verkehr zu reduzieren. Eine Untersuchung für Lissabon hat ergeben, dass bei einer vollständig geteilten Fahrzeugflotte und einem gut ausgebauten ÖPNV, der Mobilitätsbedarf der Stadt mit nur noch 10 Prozent der Fahrzeuge bedient werden könnte.

Idealerweise lassen sich die verschiedenen Angebote, inklusive dem öffentlichen Verkehr mit Bus und Bahn, über eine App buchen, so wie es bspw. in Berlin mit der „Jelbi-App“ bereits möglich ist. Aktuell finden sich diese Angebote vor allem in Großstädten, wo es in der Regel bereits einen gut ausgebauten ÖPNV gibt, der dann mit den neuen Angeboten konkurriert. Um der Kannibalisierung des öffentlichen Verkehrs vorzubeugen, kommt es darauf an, die neuen Mobilitäts-Innovationen verstärkt an den Orten einzusetzen, die keinen gut ausgebauten öffentlichen Verkehr besitzen, um Bedarfslücken zu schließen. Neue Angebote sollten künftig grundsätzlich nur dort zum Einsatz kommen, wo es kein gutes Verkehrsangebot gibt, z. B. im suburbanen Raum. Damit schafft man am Stadtrand oder im ländlichen Raum ein niederschwelliges Angebot als Alternative zum Privat-Pkw. 

Allerdings ist die Digitalisierung kein Allheilmittel. Sie kann den Bau guter Infrastruktur und analoge Angebote nicht ersetzen. Gerade in den hochverdichteten urbanen Zentren muss nach wie vor der Ausbau eines attraktiven ÖPNV Priorität haben. Darüber hinaus sollten Kommunen sichere Rad- und Fußwege anlegen und gleichzeitig den städtischen Raum für private Pkw reduzieren.

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Wie wichtig ist die Priorisierung bei der Verkehrsplanung, wenn man die gesetzten Umwelt- und Klimaschutzziele erreichen möchte?
Obwohl Deutschland mit dem Klimaschutzgesetz verbindliche Vorgaben für den Verkehr geschaffen hat, fehlen Maßnahmen zur Umsetzung bei der Verkehrsplanung komplett. Noch immer werden in Deutschland Straßen geplant und neugebaut. Zusätzliche Straßen erzeugen zusätzlichen Autoverkehr und damit noch mehr CO2-Emissionen. Und auch bei der Vision Zero – Null Verkehrstote, für die sich auch die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag ausgesprochen hat, kommen wir kaum voran. Auf der anderen Seite bestehen Engpässe im Schienennetz und das Angebot von Bussen und Bahnen ist besonders im ländlichen Raum eher dürftig. Eine zentrale Ursache dafür liegt im Verkehrsrecht. Es besteht aus zu vielen Einzelgesetzen, denen eine Besonderheit eigen ist: Regelungen zur Koordination und Umsetzung verkehrsträgerübergreifender bundesweiter Ziele, Strategien und Maßnahmen zur Entwicklung von Verkehr und Mobilitätgibt es nicht.

Nur mit einem neuen rechtlichen Rahmen können wir die Voraussetzungen schaffen, um im Verkehr bis spätestens 2045 klimaneutral zu werden. Dafür braucht es einen massiven Ausbau der Schiene, ein gutes und sicherer Radroutennetz sowie Mindeststandards für die Erschließung mit dem ÖPNV. Zwar setzt das bereits existierende Klimaschutzgesetz auch dem Verkehrssektor langfristige Ziele. Deren Wirkmacht ist allerdings gering, weil das Klimaschutzgesetz die notwendige verkehrsplanerische Bewältigung nicht leisten kann - abgesehen davon, dass es die weiteren mit dem Verkehr verbundenen Ziele und öffentlichen Interessen, wie bedarfsgerechte Mobilität, Verkehrssicherheit, Gesundheits- und Umweltschutz, gar nicht adressiert. Notwendig ist deshalb ein Bundesgesetz zur Entwicklung von Mobilität und Verkehr: ein Bundesmobilitätsgesetz. Der ökologische Verkehrsclub VCD hat dafür gemeinsam mit zahlreichen Expert*innen und Akteuren aus der Planung, der Wissenschaft, der Verkehrswirtschaft und Zivilgesellschaft Vorschläge erarbeitet, die von Verfassungsrechtlern in einen konkreten Gesetzesentwurf überführt wurden. 

Eine integrierte Verkehrspolitik, die Klimaschutz priorisiert, hat nur dann eine realistische Chance, wenn Ziele und Strategien für den Verkehrssektor verkehrsträgerübergreifend verbindlich entwickelt werden. Gleichzeitig müssen bereits vorhandene verkehrsbezogene Gesetze auf die Erreichung und Umsetzung dieser Ziele und Strategien ausgerichtet werden. Genau dies leistet unser Vorschlag für ein Bundesmobilitätsgesetz (www.vcd.org/bumog).

Wie kann die sozial-ökologische Mobilitäts- und Verkehrswende gelingen, die niemanden abhängt und alle mitnimmt?
Mobilität ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe. Doch vielen Menschen wird diese gesellschaftliche Teilhabe verwehrt, weil sie keinen ausreichenden Zugang zu guter und sicherer Mobilität haben. Gründe dafür sind u.a. ein unzureichendes Angebot des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), fehlende Barrierefreiheit oder schlecht ausgebaute Radwege. Über Jahrzehnte ging die Verkehrspolitik von der Prämisse aus, dass alle Menschen mit ihrem eigenen Auto mobil sein wollen und können. Und das gilt leider noch immer. Menschen, die nicht selbst Auto fahren können, wollen oder es sich schlicht nicht leisten können, wird damit ihr Recht auf Mobilität genommen. Das betrifft zum Beispiel Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Um allen Menschen Mobilität zu ermöglichen – unabhängig davon wie viel sie verdienen, wie alt sie sind oder ob sie mobilitätseigeschränkt sind – braucht es eine Verkehrsplanung, die auf die auf Chancengleichheit und Teilhabe ausgerichtet ist und die verschiedenen Mobilitätsbedürfnisse berücksichtigt und sozial benachteiligte Gruppen und Quartiere einbezieht.

Basis dafür ist ein gut ausgebauter, barrierefreier ÖPNV für alle, mit Mindestbedienstandards auch im ländlichen Raum und erschwinglichen Sozialtickets für Menschen mit geringem Einkommen. Eine sozial gerechte Mobilität muss Mensch und Klima in den Mittelpunkt rücken, nicht Fahrzeuge und Straßen. Als Rahmen dafür brauchen wir eine Mobilitätsgarantie, die bundesweite Standards für die Erschließung und Qualität des Umweltverbundes setzt. D.h. Mindeststandards für die Erreichbarkeit, Taktung, Bedienzeiten und gesicherte Anschlüsse im ÖPNV sowie einheitliche und vereinfachte Tarife. Außerdem braucht es ein sicheres und komfortables Rad- und Fußwegenetz auch und gerade auf dem Land. Ziel ist, dass künftig niemand mehr auf ein eigenes Auto angewiesen ist. Die Freiheit selbstbestimmter Mobilität, soziale Gerechtigkeit und der Schutz von Klima und Umwelt können so in Einklang gebracht werden.

Wie möchte man einen verlässlichen ÖPNV in den ländlichen Regionen ausbauen?
Um den öffentlichen Verkehr in ländlichen Regionen attraktiver zu machen, braucht es Taktverdichtung, Zuverlässigkeit, lange Bedienzeiten, einprägsame Abfahrtzeiten, ähnliche Reisegeschwindigkeiten wie mit dem Auto und eine einfache Tarifstruktur. Hierfür muss ein dreistufiges System angestrebt werden: Ein übergeordnetes Bus- und Bahnnetz verbindet zentrale Orte über die Hauptachsen. Dort verkehren die Angebote im dichten Takt und gewährleisten die Anbindung ländlicher Räume an regionale und überregionale Zentren. Zur kleinräumigen Erschließung dient der landkreisbezogene Linienverkehr (Regionalbusverkehr und Schülerverkehre), der Siedlungs- und Gewerbegebiete mit Zielen in der Fläche verbindet. Für die Erschließung von kleinen Siedlungen abseits von Verkehrsachsen können flexible Bedienformen wie zum Beispiel Linientaxis eingesetzt werden, die als Zubringer zum übergeordneten Bus- und Bahnnetz dienen. Wichtig sind abgestimmte Taktfahrpläne, um lange Wartezeiten auf den Anschluss zu vermeiden.

Auch im ländlichen Raum ist zudem eine optimale Verknüpfung von ÖPNV und Fahrrad eine gute Möglichkeit, um Alternativen zum Pkw zu schaffen. Dazu braucht es sichere und witterungsgeschätzte Abstellmöglichkeiten an Bus- und Bahnhaltestellen sowie eine kostengünstige Möglichkeit zur Fahrradmitnahme.

Die Abhängigkeit vom Pkw kann neben der Neustrukturierung des öffentlichen Verkehrs auch durch die Stärkung von dezentralen Strukturen mit Einrichtungen des täglichen Bedarfs gesenkt werden. So können Menschen im ländlichen Raum mehr Wege durch aktive Mobilität wie mit dem Rad oder zu Fuß bewältigen. Das Potenzial ist dabei beträchtlich: 32 Prozent der Wege sind kürzer als zwei Kilometer, 44 Prozent dieser Wege werden jedoch mit dem Pkw zurückgelegt. Für mehr aktive Mobilität braucht es eine entsprechende Infrastruktur, wie komfortable und sichere Radwege neben Landes- oder Bundestraßen. Auch Radschnellwege fördern die aktive Mobilität enorm, wie ein Blick ins Nachbarland Dänemark in der Region Kopenhagen zeigt.

 

 

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