Wie steht es generell in Sachen Digitalisierung der Medizin?
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Digitalisierung im Vergleich zu anderen Branchen wie der Industrie etwas hinterherhinkt. Wir alle kennen die Berichte, dass Daten noch händisch abgeschrieben werden und in einem anderen Gerät eingepflegt werden müssen. Die langsamere Digitalisierung hat zunächst einmal mit den langen Lebenszyklen von Medizingeräten zu tun, die in der Regel 10-15 Jahre betragen. Dadurch benötigen insbesondere großflächige Innovationen einen längeren Vorlauf. Wir erleben aber momentan eine immer stärker werdende Nachfrage nach Digitalisierungslösungen. FHIR, ein patienten- und behandlungszentrierter Standard, findet immer weiter Anwendung. Aber auch uns erreichen immer mehr und immer spezifischere Nachfragen, nach dem von unserem Verein entwickelten und beworbenen SDC-Standard. SDC steht für Service-oriented Devices Connectitivity. Der Standard füllt die große Lücke der Geräte-zu-Geräte Kommunikation in OP und Krankenhaus. Bisher gab es hier nur proprietäre Insellösungen von einzelnen Herstellern, aber keine herstellerübergreifende Lösung, die es ermöglicht, alle Geräte im OP miteinander zu vernetzen.
Was sind die Vorteile von SDC und welche Barrieren und Herausforderungen gibt es derzeit noch, um den herstellerübergreifenden Kommunikationsstandard einzuführen?
Die Einführung von SDC bringt weitreichende Vorteile. Da es sich um einen offenen Standard handelt, kann jeder Hersteller seine Geräte mit diesem integrieren. Dadurch findet eine Öffnung des Marktes statt, die insbesondere kleinen und mittelständischen Unternehmen zugutekommt. Diese müssen sich nicht mehr von Anbietern integrierter Gesamtlösungen abhängig machen. Gleiches gilt auf Betreiberseite, wo sich die Krankenhäuser die Geräte flexibel aus einem viel größeren Portfolio aussuchen können, anstatt sich langfristig an einen Anbieter zu binden.
Technologisch überzeugt SDC dadurch, dass es auf dem Internetprotokoll aufbaut und dadurch mit unterschiedlichen Transporttechnologien wie WiFi, Ethernet und 5G verwendet werden kann. Diese Architektur macht den Standard flexibel und zukunftsfähig. Zentral sind Konzepte wie Erweiterbarkeit und ein starker Fokus auf Security. Wir sprechen deswegen auch von Plug-and-Trust.
Die größten Herausforderungen liegen momentan in dem Bereich der Zulassung. Bisher ist es üblich, dass interagierende Medizinprodukte paarweise oder in kleineren Verbünden zugelassen werden. Hier sind die Interaktionsmöglichkeiten klar abgesteckt. Für die offene Vernetzung, bei der ein Gerät mit einem vorher unbekannten Gerät interagiert, ergeben sich eine Vielzahl neuer Fragestellungen. Lösungsmöglichkeiten haben wir im OR.NET e.V. zum Teil schon erarbeitet. Jetzt ist es wichtig, dass die Benannten Stellen mit uns zusammen die Konzepte zur Umsetzung bringen.
Welche notwendigen Rahmenbedingungen müssen IT-Branche, Politik und Krankenhausverwaltungen sowie die Herstellerseite dafür schaffen?
Für die Etablierung des Standards sind besonders die Krankenhausverwaltung und die Hersteller gefragt. Die Krankenhäuser können in ihren Ausschreibungen direkt einen offenen Standard zur Vernetzung fordern, um einen Pull-Effekt zu bewirken. Die Hersteller auf der anderen Seite sollten ihre neuen Geräteentwicklungen mit einer SDC-Schnittstelle ausstatten oder bestehende Systeme damit nachrüsten.
Von der Politik würden wir uns Forschungsförderungen wünschen, die den Schwerpunkt auf die Standardisierung setzen. Viele Förderprogramme legen den Fokus auf technologischen Neuentwicklungen anstelle der zeitintensiven Ausarbeitung von Standards. Hier ergibt sich ein Gap, das nur manchmal von besonders engagierten Unternehmen gefüllt werden kann.
Welche Vorteile könnten Patienten und medizinisches Personal von einer zügigen SDC-Einführung realistischerweise erwarten?
Der offensichtlichste Vorteil ist die Entlastung des Personals, da Daten nicht mehr manuell übertragen werden müssen. Auch verhindert die automatisierte Übertragung die Fehler, die uns Menschen dabei unterlaufen und führt insgesamt zu einer höheren Vollständigkeit der Daten. Eine verbessere Datenbasis führt ebenfalls zu besseren Entscheidungen, die das Patientenwohl direkt beeinflussen. Außerdem bilden diese Daten die Basis für zukünftige Workflowunterstützung des medizinischen Personals und für diagnostisch wie therapeutisch orientierte KI-Anwendungen.