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Kritische PolizistInnen befürchten, dass Menschen in polizeiliche Datenmühlen geraten

Wie zwischen Freiheit und Sicherheit abgewogen werden sollte

Thomas Wüppesahl - Bundessprecher BAG Kritischer PolizistInnen Quelle: Martin Bühler Thomas Wüppesahl Bundessprecher BAG Kritischer PolizistInnen 19.08.2020
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Man solle sich "doch angesichts unserer westlichen Werte von solchen Phantasien eines allumfassenden Überwachungsstaats abwenden", sagt Thomas Wüppesahl, Bundessprecher BAG Kritischer PolizistInnen, mit Blick auf datengetriebenes Predictive Policing. Ohnehin sei  man von den Heilsversprechen der vermeintlichen Kriminalitätsvermeider per Software noch weit entfernt.







Für verschiedene Delikte setzt die Polizei Vorhersage-Software ein – welches Potenzial hat dieses Predictive Policing aus Ihrer Sicht für die Polizeiarbeit?
Um das Thema ist es in den letzten Jahren stiller geworden. Vor wenigen Jahren gab es dazu, insbesondere nach dem Dokumentarfilm „Pre Crime“*, eine weit intensivere Debatte. Es dreht sich einmal mehr um die grundsätzliche Frage, welche Bereitschaft wir gesamtgesellschaftlich haben, individuelle Freiheit für einen tatsächlichen oder vermeintlichen Gewinn an Sicherheit aufzugeben. Denn die Gefahr ist groß, dass Menschen in polizeiliche Datenmühlen geraten, aus denen ein Entrinnen unmöglich ist. Eine solche ist bei dem heutigen Selbstverständnis, der Personalrekrutierung, der Ausbildung usw. bei den 20 bundesdeutschen Polizeien sehr wahrscheinlich.

Hinzu tritt die Gefahr eines Missbrauchs personenbezogener Daten. Es handelt sich um sehr sensible Daten! Die aktuell unaufgeklärten Skandale um Abfragen aus hessischen Polizeicomputern sprechen Bände. Die Effektivität solcher Systeme wird aber genau davon abhängen, wie viele Menschen Teil dieser Datenexperimente werden. Die Verbrechensserie in Berlin-Neukölln, wo seit Jahren linksliberale AktivistInnen Opfer rechter Gewalt werden – gerade erst wurde der Staatsanwalt von der Generalstaatsanwältin aus seiner Überforderung und einseitigen Arbeitsweise erlöst – belegt unsere Thesen. Was soll dann Pseudo-KI in Händen solcher PolizeibeamtInnen und StaatsanwältInnen?!

Analysen möglicher Kriminalitätshotspots könnten auch von Versicherungen, Banken oder Institutionen wie der Schufa missbraucht werden. Umgekehrt werden deren Daten verwendet. Bei der Vorsintflutlichkeit behördlicher IT- Sicherheit ist auch das vorprogrammiert. Dass es nebenbei auch zu rassistischen und auch sozialen Diskriminierungen kommen kann, liegt ebenfalls auf der Hand.

Beim Predictive Policing kommen Algorithmen zum Einsatz – wer sollte diese wie kontrollieren?
Um beim weit einfacheren Stichwort Schufa zu bleiben: Wir haben es bis heute nicht einmal geschafft, die verwendeten Quellcodes dieser Einrichtung transparent zu machen. Das fällt unter das Totschlagargument „Geschäftsgeheimnis“. Umso mehr werden sich Polizeien und Dienste mit Unterstützung der Innenpolitik weigern, Algorithmen offenzulegen und diese unabhängig überwachen zu lassen. Auch das berühmte Instrument „nur auf richterliche Weisung“ ist erfahrungsgemäß nicht einmal ansatzweise das Papier wert, auf dem es in Polizeigesetzen gedruckt steht. Vielmehr gibt es Studien, dass die RichterInnen in der Regel von KriminalbeamtInnen formulierte Beschlussanträge (Durchsuchungen, Haftbefehle etc.) nach Durchwinken durch die ebenfalls überlasteten StaatsanwältInnen zu über 90% ohne – wenn überhaupt (!) – relevante Prüfung und Änderung gegenzeichnen.

Kritiker wenden ein, dass insbesondere die (potenzielle) Einbeziehung personenbezogener Daten beim Predictive Policing das Recht auf informelle Selbstbestimmung gefährden könnte - wie sehen Sie das?
Diese Kritik ist zutreffend. „Komisch“ ist übrigens, dass wir bei Staaten wie China schnell bei der Hand sind, solche Systeme von schwarzen und roten Listen als verwerflich zu betrachten. Dass es auch in Rechtsstaaten zu Missbräuchen kommen kann, ist den Protagonisten solcher Systeme hierzulande gedanklich völlig fremd, obwohl die Fälle struktureller wie konkreter Missbräuche kaum vor der Unendlichkeit Halt machen. Dabei sollten wir uns doch angesichts unserer westlichen Werte von solchen Phantasien eines allumfassenden Überwachungsstaats abwenden.

Im föderalen Deutschland sind auf Landes- und Bundesebene verschiedene Systeme im Einsatz. Inwieweit steht das einen effizienten Predictive Policing entgegen?
Im Moment sind wir ja von den Heilsversprechen der vermeintlichen Kriminalitätsvermeider per Software noch weit entfernt. Deren Wirken in den Bundesländern zu beobachten, ist natürlich hilfreich. Es gibt Hoffnung, dass sie sich nicht einigen. Vielleicht wird dadurch der eine oder andere Villeneinbruch nicht vermieden. Aber unser aller Freiheitsgewinn wäre immens.

* https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/dokumentarfilm/pre-crime-dokumentarfilm-100.html

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