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Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben verschwimmen mehr und mehr

Ohne Prävention drohen langfristige Beanspruchungsfolgen

Esin Taskan, BG RCI, Leiterin Präventionsabteilung Gesundheit-Medizin-Psychologie, Heidelberg Quelle: Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie Esin Taskan Leiterin Präventionsabteilung Gesundheit-Medizin-Psychologie BG RCI 20.10.2021
INITIATOR DIESER FACHDEBATTE
Uwe Rempe
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info
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Möglichkeiten zur Qualifizierung im digitalen Transformationsprozess seien wichtig für Beschäftigte, um mit den neuen Herausforderungen umgehen zu lernen, sagt Esin Taskan von der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie. Dies und viele weitere Maßnahmen hält die Expertin für notwendig, um gesundes Arbeiten auch im Prozess der Digitalisierung am Arbeitsplatz zu gewährleisten.







Welche gesundheitlichen Gefahren birgt ein Übermaß an Digitalarbeit?
Digitalisierung hat zwei Seiten. Auf der einen Seite nehmen technische Innovationen, wie beispielsweise kollaborative Roboter, den Beschäftigten körperlich schwere oder monotone Arbeiten ab. Dadurch können mehr Arbeitsplätze mit menschlicher „Wissensarbeit“ geschaffen werden. Gleichzeitig kann der Digitalisierungsprozess aber von den Beschäftigten als Bedrohung empfunden werden. Sie machen sich Sorgen um ihre berufliche Zukunft, fühlen sich überfordert und fürchten, mit den ständigen Veränderungen nicht Schritt halten zu können. Diese Sorgen sind nicht unbegründet, denn mit der Digitalisierung findet ein schleichender Reorganisationsprozess statt. Die Schere zwischen anspruchsvollen und einfachen Beschäftigungen öffnet sich weiter. Auf der einen Seite entstehen hochspezialisierte Tätigkeiten, auf der anderen die so genannte „Clickarbeit“ ohne besondere Anforderungsvielfalt. Das Erleben solcher und weiterer Veränderungen durch die Digitalisierung kann bei den Beschäftigten Stress auslösen und damit einhergehend weitere Beschwerden hervorrufen, wie Kopfschmerzen, einen erhöhten Blutdruck, ein geschwächtes Immunsystem, Muskel-Skelett-Beschwerden, Depression, Angstzustände, Schlaflosigkeit.

Seit viele Menschen wegen der Pandemie flächendeckend im Homeoffice arbeiten, gibt es weitere Aspekte, die belastend sein können: durch ständige Erreichbarkeit oder Arbeiten am Wochenende verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben immer mehr. Wer sich nicht mehr erholen kann, dem drohen langfristige Beanspruchungsfolgen. Natürlich hat Homeoffice auch Vorteile, aber es gibt Gestaltungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf die Erholungsfähigkeit und Entgrenzung der Arbeit, was durch viele aktuelle Studien bestätigt wird.

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Welche Rolle spielen dabei die Gestaltung des Arbeitsplatzes bzw. die Formatierung der Arbeitsinhalte?
Neue Studien zeigen, dass die Digitalisierung nicht über das Knie gebrochen werden kann. Auch hier muss die Arbeit so gestaltet werden, dass mögliche Gefährdungen vermieden werden. Neben der physischen Belastung ist auch die psychische Belastung einzubeziehen. Dazu gehören die Gestaltungsbereiche Arbeitsorganisation, Arbeitsaufgabe,  Arbeitsumgebung und Soziale Beziehungen. Sie sehen anhand der Aufzählung, dass es sich um Aspekte der Arbeit handelt, die überall hineinwirken, die bei jeder Tätigkeit relevant sind. Diese Faktoren in den Arbeitsplätzen mitzuberücksichtigen bietet viel Potential, damit Beschäftigte lange gesund bleiben.

Damit ihre Beschäftigten gesund und leistungsfähig bleiben, sollten Unternehmen beispielsweise Möglichkeiten zur Qualifizierung im digitalen Transformationsprozess schaffen sowie ihre Beschäftigten in die Gestaltung der Arbeitsplätze einbeziehen. Weil sich die Arbeitssituationen mehr und mehr in hybride Konstellationen umwandeln, ist eine sichere und ergonomische Schnittstellengestaltung zwischen Mensch und Roboter zu gewährleisten. Benutzeroberflächen sollten übersichtlich gestaltet sein, um Stress und Überforderung zu vermeiden. Darüber hinaus wird es immer wichtiger, Raum und Zeit für soziale Begegnungen im Betrieb zu schaffen. Soziale Unterstützung, d. h. der gegenseitige Austausch unter den Kolleginnen und Kollegen ist als wichtiger Schutzfaktor für die psychische Gesundheit allgemein anerkannt. Bei mobil arbeitenden Beschäftigten kann eine mangelnde ergonomische Ausstattung der Arbeitsplätze, wenn die Arbeit beispielsweise im Zug, Taxi oder von zu Hause ausgeführt wird, zu gesundheitlichen Beschwerden führen. Vor allem die Kombination aus Arbeitsverdichtung, längeren Arbeitszeiten und mehr Verantwortung erhöht die Fehlerquote bei der Arbeit und somit auch das Unfallrisiko. Handlungs- und Entscheidungsspielräume, klare Prioritätensetzung, flexible Fristen und Entlastung durch die Vorgesetzten können hierbei Abhilfe schaffen.

Diese Liste möglicher Schutzmaßnahmen ist nur eine Ansammlung von Anregungen. Arbeitgeber sind im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung gefordert, Schutzmaßnahmen für betroffene Arbeitsplätze zu erarbeiten, indem die Arbeitsbedingungen erst beurteilt und im nächsten Schritt entsprechend gestaltet werden, um die Rahmenbedingungen für ein sicheres und gesundes Arbeiten zu schaffen.

Wie gehen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der digitalen Arbeitswelt mit potenziellen gesundheitlichen Risiken um, wie kann man ihnen vorbeugen, Resilienz aufbauen?
Digitale Transformation ist kein Automatismus, sondern wird von uns Menschen gesteuert. Wie bereits in der vorangegangenen Frage beschrieben, ist es erforderlich, in einem ersten Schritt die strukturellen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass mögliche gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen mit Schutzmaßnahmen unterlegt sind.

Wir sehen jedoch zusätzlich, dass die Veränderung der Arbeit die Beschäftigten auch auf der Verhaltensebene herausfordert. Dazu gehört beispielsweise die „interessierte Selbstgefährdung“, bei der Beschäftigte gesundheitliche Risiken in Kauf nehmen, um Arbeitsmengen erfolgreich zu bewältigen. Dieses Phänomen wird von einer eigentlich positiven Entwicklung begleitet, weil Beschäftigten mehr Entscheidungsbefugnisse und Handlungsspielräume bei der Erledigung ihrer Aufgaben übertragen werden. Gleichzeitig jedoch stellen diese Freiheiten die Beschäftigten vor die Herausforderung, ehemals Aufgaben, die von der Organisation reguliert wurden, nun verstärkt selbst in die Hand zu nehmen. Es entsteht die Tendenz, dass abhängig Beschäftigte mehr und mehr in Arbeitsverhältnisse übergehen, die den „Solo-Selbständigen“ sehr ähnlich sind. Um mit den gesundheitlichen Risiken dieses Arbeitens umgehen zu können, brauchen Beschäftigte selbstregulierende Fähigkeiten und Fertigkeiten. Hier werden in der jüngeren Zeit gerne die Begriffe Sicherheits- und Gesundheitskompetenz verwendet. Damit sollen Beschäftigte in die Lage versetzt werden, sich vor Gesundheitsschäden zu schützen und gleichzeitig ihre Gesundheit zu erhalten und zu fördern.

Ist das Betriebliche Gesundheitsmanagement ein passendes Werkzeug, um diesbezüglich eine hohe Kompetenz bei allen Beschäftigten eines Unternehmens zu erlangen?
Ziel des betrieblichen Gesundheitsmanagements ist es, einen Rahmen zu schaffen, in dem Gesundheit in den betrieblichen Prozessen und Strukturen integriert mitgedacht wird. Sie dient auch

dazu, die Gesundheitskompetenz der Beschäftigten aufzubauen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen dabei unterstützt und motiviert werden, die Fähigkeit und das Wissen zu entwickeln, relevante Gesundheitsinformationen zu finden, sie zu verstehen und beurteilen zu können sowie diese im Alltag anzuwenden. Erreicht werden kann dieses Ziel z. B. über Schulungen oder Seminare im Betrieb.

Unter Berücksichtigung der zunehmenden flexiblen Arbeitsmodelle ist jedoch davon auszugehen, dass möglicherweise nicht mehr alle Beschäftigten von den Präventionsangeboten eines Unternehmens erreicht werden können. Zu Letzteren gehören vor allem mobil Arbeitende, Kurzzeitbeschäftigte sowie Freelancer/Solo-Selbstständige, die in virtuellen Teams zusammenarbeiten. Um eine umfassende Präventionskultur zu etablieren, ist es deshalb entscheidend, auch die Angebote des BGMs um digitale Formate zu erweitern.

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