Der Tech-Investor Matthew Ball prognostiziert ein Metaversum, in dem virtuelle und echte Realität endgültig verschmelzen. Für wie realistisch schätzen Sie die Erschaffung eines Metaversums ein und was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten Vor- und Nachteile?
Absolut realistisch. Doch wie lange dauert es, bis eine nennenswerte Menschenmenge auch hierzulande im Metaversum unterwegs ist? Und ist das überhaupt erstrebenswert? Ich bin fest davon überzeugt, dass der Weg für eine VR-Plattform neuen Typs geebnet ist. Der Ansatz kommt ja nicht von ungefähr oder aus Menschenliebe, sondern um den Kapitalismus auf eine neue Stufe zu heben. Der Vorteil liegt daher sicherlich primär darin, in einer allgegenwärtigen Digital-Parallelwelt noch mehr Märkte zu schaffen. Dadurch entstehen neue Geschäftsmodelle, noch mehr digitale Werbung, entsprechend auch neue Jobs in der echten und virtuellen Welt. Es wäre mehr als wünschenswert, wenn die Betreiber dann auch entsprechende Steuern auf ihre Gewinne zahlen würden; und zwar in den Ländern, in denen die User sitzen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Nutzer:innen mit ihren virtuellen Haustieren schon bald zum virtuellen Haustierfriseursalon watscheln und dafür in Digitalwährung bezahlen. Auf der anderen Seite steigt der Bedarf an Versorgungsdienstleistungen in der realen Welt. Denn wer sein Leben zunehmend im Digitalen verbringt und dort als virtueller Friseur sein Einkommen bezieht, verlässt seine echte Wohnung immer weniger. Wozu auch? Entsprechend haben wir plötzlich noch mehr Pflegebedürftige und noch weniger verfügbare Arbeitskräfte in der echten Welt. So richtig geht die Gleichung aus meiner Sicht nicht auf. Schließlich ist es in einer insgesamt alternden und schrumpfenden Demografie wenig sinnvoll, mehr Beschäftigung aus dem Nichts zu erschaffen – erst recht nicht ohne echte Wertschöpfung.
Im schlimmsten Fall driften wir in eine Zukunft, die den Matrix-Filmen ähnelt: In der realen Welt verbleiben die Versorger, die die Infrastruktur, die Grundbildung, die Landwirtschaft etc. am Laufen halten und echte Infrastruktur zurückbauen. Angeschlossen ans Metaversum fristen die hedonistischen Virtualisten ihr digitales Dasein.
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Die Idee wird vor allem von Netzgiganten vorangetrieben. Wer sollte ein mögliches Metaversum kontrollieren?
Wenn man sich aktuell in den Kommentarspalten von „Social“ Media umschaut, kann einem nur übel werden, weshalb ich offen gestanden wenig Hoffnungen in eine total faire, neue Umgebung im Metaversum habe. Es gibt zwar auch alternative Ansätze wie Dynamicland, welches deutlich demokratischer organisiert sein soll; eine schöne Idee. Doch ich schätze die Staatsregierungen der Welt mit wenigen Ausnahmen als ungenügend kompetent genug ein, um eine wirksame Kontrolle zu oktroyieren – der Geist ist aus der Flasche und jetzt haben wir den Salat. Infolgedessen dürfte Cybercrime wie Betrug, Mobbing und illegaler Handel noch deutlich zunehmen.
Dazu fällt mir der Film „Don’t look up“ ein, in dem die US-Präsidentin einen Tech-Milliardär hinzuzieht, um die Welt zu retten; ein scheinbar lustiges, aber doch recht realistisches und eher tragisches Bild der aktuellen Situation. Beim Metaversum sind die Regierungen auf eine Zusammenarbeit mit den Betreibern angewiesen.
Aber ganz ehrlich: Haben wir nicht andere Probleme? Mehr als 33 Prozent der Menschheit hat noch immer keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser (s. UN-Weltwasserbericht 2021), dafür haben über 70 Prozent Zugang zum Internet (s. Statista). Wahnsinn.
Einzelne Computerspiele erfüllen bereits bestimmte Merkmale des beschriebenen Metaversums. Inwieweit könnte die Spiele-Industrie ein Standard-setzender Treiber auf dem Weg zu einem Metaversum werden?
Der Schritt ist längst vollzogen. Mit den modernen Mitteln der quasirealistischen Darstellung mit VR-Brillen, übertragen in fast-Echtzeit und angetrieben durch schicke Mac-Tower mit doppel Octa-Core-Prozessoren wird die reale von der virtuellen Welt für manche Menschen rapide abgelöst. Zur Brille gesellen sich in den kommenden Monaten und Jahren weitere Gadgets, wie der Teslasuit, der am ganzen Körper Druck erzeugt und damit die Umgebung wie Wind oder Berührungen simuliert. Alles mit dem Ziel, die Immersion und den Suchtfaktor weiter zu steigern. Was mit Gaming begann, eignet sich längst zur virtuellen Begegnung, virtuellen Geschäften oder virtuellen Romanzen; die Erotikindustrie ist da ja besonders innovativ…
Aber Spaß beiseite. Ich halte es für Besorgnis erregend, in welche Richtung die Entwicklung zeigt. Schon jetzt haben wir immer mehr Probleme mit einer 100-Prozent-Mentalität, die in eine extreme Form der Wohlstandsverwahrlosung führt. Wenn eine politische Partei nicht komplett der eigenen Haltung entspricht, gehen viele gar nicht mehr wählen. Wenn eine Zeitung oder ein TV-Sender programmatisch mal daneben liegt, werden sie plötzlich zu verachteten „Systemmedien“. Also bleibt nur noch der Angriff nach vorn oder die Flucht ins Digitale. Und genau das nutzt das Metaversum aus: eine schöne, neue Welt, die ich mir so baue, wie sie mir gefällt. Noch mehr Raum für endlose Empörung über „die da oben“.
Second Life gilt ein Prototyp oder Vorläufer des Metaversums. Warum ist diese Plattform nach einem enormen Hype wieder aus dem Blick der breiten Öffentlichkeit gerückt?
Second Life wollte nie mehr als eine Nische ansprechen: Menschen, die in der echten Welt nicht zurechtfinden und oder sich auf ein Experiment einlassen. Hinzu kommt, dass die Technologie seit dem Start von Second Life 2003 große Sprünge gemacht hat. Mit dem Einstieg von Meta ändert sich alles. Hier soll die Masse angesprochen werden, der Markt ist so groß wie die Anzahl der Internetanschlüsse, siehe oben.