Wie verläuft im Allgemeinen die Entwicklung von digitalen Anwendungen?
Die meisten Entwicklungen im Softwarebereich werden als Projekte nach Scrum umgesetzt. Scrum ist eine agile Methodik im Bereich der Softwareentwicklung, die sehr flexibel auf verschiedene Projekte im Softwarebereich angewendet werden kann. Es unterscheidet sich von der klassischen Entwicklung in der Hinsicht, dass es keine Projektleitung mehr gibt, welche die Aufgaben an die Teammitglieder verteilt, sondern diese sich in den Arbeitsschritten selbst im Team organisieren. In diesem Arbeitskonstrukt gibt es auch keine festen Projektphasen, sondern es wird in sogenannten Sprints entwickelt, die eine bis vier Wochen dauern. Das Schöne an diesem agilen Arbeiten ist, dass jederzeit Änderungen und Anpassungen in der Entwicklung berücksichtigt werden können. Veränderte Anforderungen, die aus anderen Abteilungen oder aus Kundenfeedback abgeleitet werden, können direkt berücksichtigen und, wenn die Priorität als hoch eingeschätzt wird, in den nächsten Sprint eingeplant und direkt umgesetzt werden.
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DIE DOKUMENTATION DIESER FACHDEBATTE
Inwiefern spielt Barrierefreiheit in diesem Prozess schon eine Rolle und wer außer den Entwicklern testet die Entwicklungsergebnisse bis zum Punkt der Marktreife?
Leider gibt es dazu keine Antwort, die global zutrifft. Man kann aber sicherlich sagen, dass es aufgrund des Drucks der kommunalen und öffentlichen Kunden immer relevanter wird, die Barrierefreiheit umzusetzen. Hier entfaltet die Direktive der Europäischen Union ihre Wirkung und strahlt auch schon auf die Entwicklung in der Privatwirtschaft ab, die auch bald gesetzlich in die Pflicht genommen wird. Wer die Barrierefreiheit nicht von Anfang an in seinen Entwicklungsprozessen berücksichtigt, hat zum Ende einen deutlich höheren Aufwand, die Barrierefreiheit noch umzusetzen. Der beste Zeitpunkt ist die Planung eines Softwareprojektes. Wichtig ist darüber hinaus, die Barrierefreiheit als Eigenschaft bei der Abnahme jedes Entwicklungsschrittes, so wie alle anderen Funktionen auch, zu testen und freizugeben. Im Idealfall führen Betroffene diese Tests gemeinsam mit den Entwicklern durch. Sicherlich sind das Prozesse, die immer relevanter werden und von immer mehr Entwicklern umgesetzt werden.
Wie verhindert man von Vornherein durch strukturelle Anpassungen im Entwicklungsprozess den Ausschluss von potenziellen Nutzergruppen?
Es führt kaum ein Weg daran vorbei, regelmäßig mit Betroffenen, die aus sehr verschiedenen Blickwinkeln auf das Thema schauen, im Austausch zu stehen und die Learnings dann in die laufenden Softwareprojekte zu implementieren. Dazu sollte jedes Team in der Planung seines Softwareprojektes die Personas definieren und die jeweiligen Anforderungen an die Benutzung der Software strukturiert erfassen und klar definieren. Es hat sehr viel damit zu tun, sich in die Lage anderer Menschen hineinzuversetzen und diese zu berücksichtigen. Leider gibt es keinen einfachen direkten Weg. Dafür sind die meisten Softwareprojekte zu individuell. Anders sieht es zum Beispiel bei Webseiten aus, die relativ einfach auch im Nachgang barrierefrei angepasst werden können.
Sind die rechtlichen Vorgaben zur digitalen Barrierefreiheit ausreichend oder muss die Politik hier mehr tun?
Sicher kann man darüber diskutieren, ob die Pflicht zur Barrierefreiheit nicht eher hätte verabschiedet werden müssen. Der rechtliche Rahmen ist aus meiner Sicht mit dem internationalen Standard WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) aber gut gewählt und klar für alle Beteiligten. Was aber im Vergleich mit beispielsweise den Amerikanern fehlt, ist eine Konsequenz bei Nichtumsetzung. Dies führt zu einem sehr starken Wegducken und einer zögerlichen Umsetzung. Je nachdem, wie diese Entwicklung weitergeht, wird die Politik sicher nachjustieren müssen.