Die personalisierte Medizin hat das Potenzial, weitreichende Veränderungen in der Patientenbehandlung zu bewirken, ist sich Dr. Jörg Böhme sicher, Chefarzt am Klinikum für Unfallchirurgie, Orthopädie und septische Chirurgie am Leipziger St. Georg. Beispielsweise sind "Softwarelösungen zur Assistenz bei der Befundung radiologischer Aufnahmen in naher Zukunft möglich und können so die Arbeitsbelastung von Radiologen denkbar reduzieren. Auch in der Ausbildung von jungen Assistenzärzten werden Technologien der KI für den Einsatz vorbereitet. So werden, ähnlich wie bei der Pilotenausbildung, virtuelle, haptisch hinterlegte Computerprogramme ganze Operationsabläufe abbilden und die jungen Kollegen auf unterschiedliche OP-Methoden und individuelle Besonderheiten optimal vorbereitet".
Paul O’Donohoe, Sprecher und Wissenschaftlicher Leiter beim globalen Gesundheitsunternehmen Medidata, sieht mittelfristig vor allem den viel häufigeren Einsatz von Wearables und Sensoren beim Patienten. So sammele man beispielsweise mit Hilfe eines Sensors oder eines tragbaren Geräts Patientendaten über den gesamten Tag hinweg und lasse die Patienten jeden Morgen ein elektronisches Tagebuch ausfüllen. "Mit Hilfe digitaler Technologien können wir dies mit recht wenig Aufwand tun. Gleichzeitig erhalten wir sehr genaue und verlässliche Daten und bekommen einen deutlich individuelleren Einblick in die Erfahrungen der Patienten. Sensoren und tragbare Geräte erlauben es uns, Daten passiver zu messen und die Patienten bei ihren normalen Aktivitäten zu beobachten, wodurch wir die Auswirkungen der Krankheit auf den einzelnen Patienten und mögliche Folgen einer Therapie nach ihrer Verabreichung verstehen können."
"Personalisierte Medizin stellt die Einzigartigkeit der Patient*innen in den Vordergrund und schaut auf individuelle Besonderheiten der Betroffenen", konstatiert Dr. André Schmidt, Chief Scientific Officer der Novartis Pharma GmbH. Diese sind beispielsweise das Alter, die körperliche Fitness oder Merkmale der persönlichen Gene und Zellen. "Mit der genauen Kenntnis über diese Faktoren, zum Beispiel wenn die Beschwerden durch eine Genveränderung verursacht werden, können wir heute vorhersagen, ob ein Medikament bei einem/einer Patient*in nicht wirken oder starke Nebenwirkungen hervorrufen könnte. Das Ziel ist eine maßgeschneiderte, wirksame Therapie für jeden Einzelnen."
Den Fokus auf die spektaklären Fortschritte biomedizinischer Forschung legt Dr. Hanna Hartmann, u.a. Bereichsleiterin Biomedizin & Materialwissenschaften am NMI Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut Reutlingen. Aber deren Tempo sei möglicherweise von durchaus notwendiger Regulierung bedroht. "Um innovative Herstellungsprozesse, wie zum Beispiel das Bioprinting reproduzierbar, anwendungsspezifisch und sicher zu gestalten, ist erstmal eine grundlegende Standardisierung erforderlich, damit zukünftige Entwicklungen in Richtung pharmazeutischer Produkte oder sogar einer Translation in die Klinik möglich sind. Daher wurde im letzten Jahr ein neuer VDI-Richtlinienausschuss gegründet, in dem ich Vorsitzende bin. Ziel der interdisziplinären Mitglieder ist es, einen Leitfaden für die Prozessdurchführung und Produktkontrolle zu erarbeiten und wichtige qualitätssichernde Maßnahmen zu definieren."
In der Forschung für an den jeweiligen Patienten angepasstes biobasiertes Prothesen- und Implantatmaterial können aufwendige Parameterstudien durch Nutzung von KI stark abgekürzt werden, berichtet von einem weiteren neuen Feld der PM Dr. Wolfdietrich Meyer, Wissenschaftler im Bereich "Biofunktionalisierte Materialien und (Glyko)Biotechnologie" am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP Potsdam. "Ziel unserer Forschung am Fraunhofer IAP ist, dass Materialien, die wir implantieren, sich mechanisch so wie das native Material verhalten. Das ist natürlich bei jedem Menschen unterschiedlich und kann durch die richtige Materialwahl und dreidimensionale Strukturierung angepasst werden, und das an allen Organen: Knochen, durchblutetes Gewebe wie der Haut und Bindegewebe vom Herzen."
Jennifer Debarry, Koordinatorin des Centre for Individualised Infection Medicine (CiiM) in Hannover, ist sich sicher, dass viele Krankheiten mittels personalisierter Medizin besser therapiert werden können. Das reiche weit über die derzeit in Forschung und Therapie führende Onkologie hinaus. Es gebe freilich noch eine Reihe zu klärender Fragen. Zum Beispiel: "Wie können wir sicherstellen, dass die notwendigen Technologien allen Patienten und Patientinnen zur Verfügung stehen? Und wie erreichen wir, dass das stetig zunehmende Wissen für jede und jeden Einzelnen umfassend eingesetzt wird? Konträr hierzu müssen wir aber auch die Frage stellen, wie ein Recht auf Nichtwissen umgesetzt werden kann. Nicht jede oder jeder möchte ein potenzielles Krankheitsrisiko kennen, das sich bspw. aus einer Genanalyse ergibt."
Den Nutzen Künstlicher Intelligenz nimmt Marcel Weigand, Leiter für Kooperationen und digitale Transformation der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD), in den Blick. "Mit KI kann das aggregierte Wissen über viele Patienten auf den individuellen Fall angewendet werden", sagt er. Gerade bei seltenen Erkrankungen warteten über ein Viertel der Patienten länger als fünf Jahre auf eine richtige Diagnose – für Betroffene oft sowohl körperlich als auch psychisch eine Tortur. Das gehe besser: "An der Uniklinik Bonn wurde beispielsweise ein KI-System („GestaltMacher“) entwickelt, dass seltene genetische Erkrankungen anhand von bestimmten Gesundheitsmerkmalen ziemlich verlässlich erkennt."
"Erfolge der personalisierten Medizin sind in den letzten Jahren insbesondere bei der Behandlung von Krebserkrankungen deutlich geworden", fasst Professorin Dr. Veronika von Messling, Leiterin der Abteilung Lebenswissenschaften im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die Entwicklung der Personalisierten Medizin in den letzten Jahren zusammen. Aber auch andere Krankheiten hätten erhebliches Potenzial für personalisierte Behandlungsansätze. "Beispielsweise bei psychischen Erkrankungen, denen häufig komplexe, individuelle Erfahrungen und Erlebnisse zugrunde liegen, sind ebenso individuelle Therapieansätze gefragt. Auch die verbesserte Diagnostik von Hepatitis E-Infektionen oder die Sepsis-Prävention bei Frühgeborenen sind Themen mit viel Potenzial für eine erfolgreiche individuelle Behandlung. Die sehr unterschiedlichen Verläufe der COVID-19-Erkrankung legen ebenfalls nahe, auch hier nach personalisierten Therapieansätzen zu suchen."
Mittelfristig wird personalisierte ■ ■ ■
Wie KI die Radiologen sowie junge Ärzte in der ■ ■ ■
EIN DEBATTENBEITRAG VON
PD Dr. Jörg Böhme
Chefarzt Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Spezialisierte Septische Chirurgie
Klinikum St. Georg Leipzig