Die Deutschen liegen bei digitalen Kompetenzen im europäischen Vergleich hinter der Spitzengruppe. Worin sehen Sie die wichtigsten Gründe dafür?
Die Gründe dafür, dass Deutschland bei den digitalen Kompetenzen im europäischen Vergleich hinter der Spitzengruppe liegt, sind vielfältig und komplex. Ein wesentlicher Faktor ist der Stellenwert von Digitalisierung und Digitalkompetenzen. Im deutschen Schulsystem spielen digitale Kompetenzen immer noch kaum eine Rolle, nur 28 Prozent der Bürger*innen glauben, dass die Schulen den Schüler*innen die notwendigen digitalen Kompetenzen vermitteln, damit diese im internationalen Vergleich mithalten können. Auch in unserer Studie „21st Century Schools“** aus dem Jahr 2021 stellten die befragten Eltern den Schulen diesbezüglich ein eher schlechtes Zeugnis aus. Zudem gehören digitale Geräte und Anwendungen in vielen Schulen noch nicht zur Grundausstattung, Lernen in und über die digitale Welt findet noch viel zu selten statt. Dies ist einer der Gründe für den „Digital Skills Gap“, den wir auch bei den sogenannten „Digital Natives“, also den Generationen, die mit der Digitalisierung aufgewachsen sind, sehen. Während Anwendungskompetenzen in diesen Generationen weitgehend vorhanden sind, fehlt es häufig an Verstehenskompetenzen (Wie funktioniert die digitale Welt?).
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Es gibt eine erhebliche digitale Kompetenz-Kluft nach der formalen Bildung. Was kann dagegen getan werden?
Wichtig ist, dass die Vermittlung digitaler Kompetenzen lebensweltbezogen und niedrigschwellig erfolgt, idealerweise gibt es Angebote in unmittelbarer Nähe, die sich leicht in den Alltag der Menschen integrieren lassen. Damit Angebote aber auch genutzt werden, muss zunächst ein Problembewusstsein vorhanden sein. Leider stellen wir in unseren Befragungen oft das Paradoxon fest, dass gerade die Gruppen, die sich mehr Angebote zum Erwerb digitaler Kompetenzen wünschen und diese auch häufiger in Anspruch nehmen, diejenigen sind, die bereits über solide digitale Kompetenzen verfügen. Diesen Gruppen ist häufiger bewusst, dass man gerade im Bereich der Digitalisierung nicht auslernt. Sie können ihre eigenen Kompetenzen häufiger kritisch einschätzen und glauben auch häufiger, dass sie von der Digitalisierung profitieren – das motiviert, bei diesem Thema am Ball zu bleiben.
Wir dürfen also nicht darauf warten, dass bestehende Angebote in Anspruch genommen werden, sondern müssen aufsuchende Angebote schaffen. Am besten durch Multiplikator*innen, die Zugang zu den Lebenswelten dieser Menschen haben.
Fast drei Viertel der Deutschen glauben, dass sich die eigenen beruflichen Tätigkeiten durch die Digitalisierung nicht verändert. Wie bewerten Sie diesen Befund?
Dieses Phänomen ist nicht neu. Wir sehen in unserer Studie den so genannten „Vogel-Strauß-Effekt“. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass man versucht, ein Problem wie die mögliche Veränderung oder gar den Verlust des eigenen Arbeitsplatzes dadurch zu lösen, dass man sprichwörtlich den Kopf in den Sand steckt, um das Problem nicht sehen zu müssen. Dieses psychologische Phänomen tritt häufig auf, wenn Herausforderungen zu groß oder zu komplex erscheinen, um bewältigt werden zu können.
Doch genau dieses „Kopf in den Sand stecken“ ist die falsche Strategie, wenn man langfristig mit dem digitalen Wandel Schritt halten und von seinen Vorteilen profitieren will. Resilienz im digitalen Wandel bedeutet, Veränderungen zu antizipieren, zu akzeptieren und sich anzupassen, bevor der Veränderungsdruck zu negativen Konsequenzen führt. Insofern ist dieses Ergebnis nicht überraschend, aber ein Grund zum Handeln.
Was sollte die Politik zur Verbesserung der digitalen Kompetenz der Bürger*innen leisten?
Das ist die große Frage. Ich habe schon einige Möglichkeiten aufgezeigt. Wichtig sind Angebote vor Ort, die möglichst niedrigschwellig sind, die in der Lebenswelt ansetzen und die Menschen dort abholen, wo sie stehen.
Um es ganz plastisch zu machen: Wer alleinerziehend ist oder Pflegeaufgaben hat, kann oft nicht abends oder am Wochenende einen Volkshochschulkurs besuchen. Jemand, der in seiner Mobilität eingeschränkt ist, kann nicht unbedingt in die nächste größere Stadt fahren, um dort Angebote wahrzunehmen. Menschen mit geringem Einkommen können sich Kurse nicht leisten. „One size fits all“ passt hier also nicht. Man muss die Bedürfnisse der Zielgruppen verstehen: Welche Kompetenzen brauchen sie jetzt und in Zukunft? Welche Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, damit sie diese erwerben können? Das kann Politik oft gar nicht wissen.
Was die Politik tun kann, ist, die Rahmenbedingungen für einen wirksamen Kompetenzerwerb zu schaffen. Dazu braucht es:
1. Einen politischen Willen, der sich in klaren Zielen niederschlägt. Es muss ein politisches Zielbild geben, ähnlich wie wir es bei der Digitalen Dekade der Europäischen Kommission sehen: Bis 2030 sollen 80 Prozent der Bürger*innen mindestens digitale Basiskompetenzen haben.
2. Das Erreichen dieses Ziels muss politische Priorität haben, und das muss sich auch im Haushalt widerspiegeln. Es gibt viele Ziele und konkurrierende Begehrlichkeiten in der Politik, so dass sich Prioritäten auch ändern können. Der Aufbau digitaler Kompetenzen in der Bevölkerung ist aber aufgrund des fortschreitenden Wandels ein „ongoing process“ und muss dauerhaft betrieben werden. Deshalb braucht es eine sichere und nachhaltige Finanzierung, keine Projektförderung über 2 oder 3 Jahre, nach deren Auslaufen die Angebote eingestellt werden müssen. Auch in Zeiten schwieriger Haushaltslagen muss klar sein: Investitionen in die digitalen Kompetenzen der Bevölkerung sind kein „nice to have“, sondern unverzichtbar, wenn Deutschland international nicht den Anschluss verlieren will. Digitale Teilhabe sollte als Aufgabe der Daseinsvorsorge anerkannt werden, und zwar nicht nur wie bisher als Netzzugang, sondern umfassend. Dazu gehört auch die Förderung digitaler Kompetenzen, ohne die der Netzzugang für die Bürger*innen wenig Nutzen hat. Hier ist Nordrhein-Westfalen Vorreiter, auch wenn es dort im speziellen um die digitale Teilhabe älterer Menschen geht.***
3. Der Weg zu den gesetzten Zielen muss regelmäßig überprüft und es muss gegebenenfalls steuernd eingegriffen werden. Stellt sich heraus, dass die bisherigen Maßnahmen nicht oder nicht schnell genug zum Ziel führen, muss die Strategie angepasst werden. Summative Evaluationen der getroffenen Maßnahmen kommen zu spät – es muss begleitend formativ beobachtet werden, ob die gewählten Maßnahmen Wirkung zeigen.
* https://initiatived21.de/publikationen/21st-century-schools
** https://initiatived21.de/publikationen/digital-skills-gap
*** https://teilhabe65plus.digital/index.php?key2=133