Computergestützte Modelle schaffen es immer besser, Simulationen komplexer künftiger Entwicklungen herzustellen. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Chancen datengetriebener Prognostik?
Modellierungen sind nur so gut, wie die in sie eingespeisten Vorannahmen. Werden die Daten, die die Komponenten der Modelle determinieren, verlässlicher, können Aussagen von Modellen auch robuster werden. Während der SARS-CoV-2 Pandemie bekommen Modellierungsstudien bisher nicht gekannte Aufmerksamkeit (1,2), so zum Beispiel Modelle, in die Annahmen zur Güte von Screeningtests, zur Häufigkeit der Testungen, zu Konsequenzen aus positiven und negativen Testergebnissen und zur Dynamik des Infektionsgeschehens einfließen. Belastbare direkte empirische Evidenz, d.h. Daten zum Nutzen und Schaden des Einsatzes von Screening auf SARS-CoV-2, liegen derweilen nicht vor. Ist eine der Vorannahmen aus den Modellierungen falsch oder basiert auf unsicheren Daten, ist das Modell fragil und bietet unzutreffende Ergebnisse. Modelle können nach Gewinnung besserer Evidenz flexibel und niederschwellig aktualisiert werden. Modellierungen bei schwacher Evidenz oder Abwesenheit von Evidenz müssen als Auftrag verstanden werden, die geeignete empirische Grundlage durch prospektive Studien zu schaffen.
JETZT HERUNTERLADEN
DIE DOKUMENTATION DIESER FACHDEBATTE

DIE DOKUMENTATION ENTHÄLT
Übersicht aller aktiven Debattenteilnehmer
Summary für Ihr Top-Management
Immer zuverlässigere Prognosen geben den Entscheidern immer genauere Handlungsempfehlungen an die Hand. Wie groß schätzen Sie die Gefahr zunehmender Alternativlosigkeit für Entscheider ein?
Die Zuverlässigkeit einer Prognose lässt sich nur durch prospektive Nachbeobachtung über einen definierten Zeitraum und Bestimmung eines vorab festgelegten Zielkriteriums bestimmen. Oft sind Prognosen nicht angemessen validiert hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit. Selbst wenn die Prognose zuverlässig wäre, sagt dies noch nichts über das Nutzen-Schaden-Verhältnis der danach folgenden Interventionen aus. Nebst zuverlässiger Prognose bedarf es also auch einer evidenzbasierten Intervention, die in randomisierten kontrollierten Studien auf Wirksamkeit und Sicherheit überprüft wurde.
Es ist ein Irrtum zu glauben, dass modellierte Prognosen alleine bereits ausreichen, um sinnvoll handeln zu können. Eine Prognose ist nicht mit einer Handlungsempfehlung gleichzusetzen, sondern kann nur die Grundlage für eine Handlungsempfehlung liefern. Handlungsempfehlungen sind eben auch nur Empfehlungen. Die Personen, die in die Entscheidung involviert sind, müssen immer das Recht haben, sich begründet von den Empfehlungen abzuwenden. Es ist unerlässlich, dass Angehörige von Gesundheitsprofessionen wissen, dass Patient*innen ein Recht auf eine Offenlegung von Prognosen und deren Zuverlässigkeit haben und selbstredend das Recht, eine Handlungsempfehlung nicht anzunehmen. Verbraucher*innen im Gesundheitswesen müssen die nötigen Informationen erhalten, um eine informierte Entscheidung treffen zu können. Diese kann in jedem Fall nach Abwägung der Lebenssituation, der (Therapie-)Ziele und sonstiger entscheidungsrelevanter Aspekte anders ausfallen als vom Anbieter der Gesundheitsleistung erwartet und erhofft.
Auch in einem größeren Kontext, z. B. einem gesamtgesellschaftlichen, gilt es in einem legitimierten Rahmen auszudiskutieren, ob einer Prognose als Grundlage für Handlungen gefolgt werden soll. Prognostische Aussagen fokussieren ja zumeist auf bestimmte Endpunkte und außerhalb des engen Fokus einer Prognose kann es gute Gründe geben, eine scheinbar alternativlose Handlungsoption doch nicht umzusetzen.
Pandemie, Klimakrise, Kriminalistik – immer häufiger werden Algorithmen-basierte Modelle für Prognosen eingesetzt. Wer sollte aus Ihrer Sicht die Algorithmen kontrollieren?
Wie bereits erwähnt, ist es unerlässlich, die Zuverlässigkeit der Vorannahmen kontinuierlich zu überprüfen und anzupassen. Ebenso die danach eingeleiteten Interventionen. Die Prognosen ihrerseits müssen Gegenstand von kritischen Analysen werden. Die Modelle für Prognosen müssen transparent und nachvollziehbar sein. Damit ist zugleich gesagt, dass wissenschaftliche Expertise mit fachlichem Sachverstand die Qualitätssicherung der Algorithmen leisten muss.
Seit den Orakeln in der Antike hat die Prognostik eine Tradition – wie sinnvoll sind aus Ihrer Sicht Vorausschauen ganz grundsätzlich, insbesondere wenn sie die weiter entfernte Zukunft betreffen?
Diese Frage übertragen auf das Gesundheitssystem und die gesundheitliche Daseinsfürsorge erlaubt nur die Aussage: sehr wichtig. An vielen Stellen fehlt hierzulande eine rationale Planung auf Basis prognostischer Abschätzung, so z.B. bei der Anzahl der Krankenhäuser und -betten, Arztsitze, Kompetenzverteilung innerhalb der Gesundheitsprofessionen. Hier sind andere Mechanismen Treiber, die zur Mengenausweitung, unguter Konkurrenz und Kostenexpansion führen, anstatt zu Prognose-gestützter Steuerung vorzuhaltender Ressourcen im Gesundheitswesen. Prognostik im Gesundheitswesen muss auch Krisen wie die SARS-CoV-2 Pandemie antizipieren und mag zu mehr Resilienz und besserem Vorbereitet-sein führen. Fehlt es an einer wissenschaftsgerechten Systematik zur Erfassung von verlässlichen Kennziffern und Daten als Grundlage für die Prognostik, bleibt es ob fehlender verlässlicher Datengrundlage beim Orakeln à la Delphi.
(1) https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-ebmnetzwerk-dgph-20210318.pdf
(2) https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/erwiderung-kritik-stellungnahme-covid19