Was bedeutet für Menschen mit einer körperlichen, sozialen oder geistigen Einschränkung gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben?
Gleichberechtigte Teilhabe bedeutet, dass behinderte Menschen den gleichen Zugang zu allen Lebensbereichen haben wie nichtbehinderte Menschen. Dass das nicht so ist, hängt damit zusammen, dass behinderte Menschen lange als „Objekt“ von Fürsorge angesehen worden sind. Sie sind also besonders behütet und damit ausgesondert worden: oftmals in extra für sie geschaffenen Einrichtungen. Dadurch konnte sich keine Gleichberechtigung entwickeln. Heute ist verbindlich, dass behinderten Menschen das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe zusteht. Wichtig ist, dass damit auch ein menschenrechtsbasiertes Verständnis von Behinderung zusammenhängt: Behinderung entsteht dann, wenn in Wechselwirkung zwischen der individuellen Beeinträchtigung und den Barrieren in der Gesellschaft eine Beeinträchtigung der Teilhabe bewirkt wird. Das weist zugleich die Verantwortung für den Abbau von Barrieren der Gesellschaft zu. Nicht der behinderte Mensch muss sich anpassen, sondern die Gesellschaft. Sie muss organisieren, dass behinderte Menschen mit ihren sehr spezifischen Bedarfen überall die gleichen Chancen haben. Es geht also bei gleichberechtigter Teilhabe um ein selbstbestimmtes Leben unabhängig von einer individuellen Beeinträchtigung.
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Sind technische Neuerungen der Königsweg in Sachen Teilhabe? Oder können sich technische Lösungen auch als Inklusionshindernis erweisen?
Natürlich sind sie aus sich heraus nicht der Königsweg. Technik kann die gleichberechtigte Teilhabe unterstützen. So ist beispielsweise die Herstellung der Barrierefreiheit von Webauftritten oder Software eine Grundvoraussetzung dafür, dass sie von Menschen mit bestimmten Behinderungen genutzt werden können. Wird das versäumt, entsteht aber durch die technische Lösung erst die Barriere und damit die Teilhabeeinschränkung. Ein Beispiel ist die flächendeckende Einführung von Videokonferenzsystemen in der Pandemie. Viele dieser Anwendungen waren oder sind nicht barrierefrei, was zu einem Ausschluss blinder und hochgradig sehbehinderter Menschen geführt hat.
Es gibt mittlerweile viele gute rechtliche Regelungen, die digitale Barrierefreiheit verbindlich machen. Es fehlt aber noch immer an einer konsequenten Umsetzung. Hierzu braucht es aus meiner Sicht nicht nur die Erkenntnis, dass Barrierefreiheit als Qualitätsstandard immer und überall zu berücksichtigen ist. Es braucht auch die Beteiligung von behinderten Menschen als Expert:innen in eigener Sache an dieser Umsetzung. „Gut gemeinte“ Technik geht oft am tatsächlichen Bedarf vorbei.
Wenn wir über technische Innovationen in einer Welt reden, die sich zunehmend durch den Wechsel von analogen und digitalen Interaktionsformen auszeichnet, muss man schließlich berücksichtigen, dass technische Lösungen grundsätzlich keine sozialen Ausschlüsse überwinden können. Wichtig erscheint mir deshalb, dass wir im analogen und digitalen Raum weiter für die Weiterentwicklung von Teilhabe einstehen und diese so verbessern, dass wir überall unsere Lebenswelten teilen.
Was kann getan werden, dass es in diesem Bereich mehr Innovationen gibt?
Wir brauchen viel mehr als bislang eine partizipative Entwicklung von innovativen Angeboten. Behinderte Menschen müssen als Entwickler:innen, aber auch im Rahmen von User-Tests an diesen Projekten systematisch beteiligt werden. Positiver Nebeneffekt ist, dass sich auf diese Weise in Zeiten von zunehmendem Fachkräftemangel für Unternehmen eine Arbeitsressource heben lässt und behinderte Menschen mehr Zugang zum allgemein Arbeitsmarkt bekommen.
Darüber hinaus muss das Thema der gleichberechtigten Teilhabe sich in Ausbildungs-, Studien- und Weiterbildungsgängen aller Disziplinen wiederfinden. Nur wenn es gelingt, diese Anforderung als Querschnittsthema mitzudenken, werden wir Entwicklungsprozesse anstoßen können, die sich letztlich in besseren Produkten niederschlagen. Denn klar ist auch: Entwicklungen, die für bestimmte Zielgruppen erst den Zugang ermöglichen, erhöhen oft den Komfort für alle. Spracheingabefunktionen auf dem Smartphone, Siri, Erinnerungsfunktionen oder To-Do-Manager sind hierfür gute Beispiele.
Es braucht aber auch Anreizsysteme. Mit dem Programm „Internet für alle“ fördert die Aktion Mensch zurzeit Investitionskosten und Bildungsangebote, die eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am digitalen Fortschritt ermöglichen. Entsprechende Programme sollten fortgesetzt und weiterentwickelt werden.
Wie lässt sich das Zusammenspiel von neuer Technik und gesellschaftlicher Akzeptanz in Sachen Inklusion/Teilhabe optimal organisieren?
Auf institutioneller Ebene benötigt es neben der Kenntnis über barrierefreie und teilhabefördernde Infrastruktur vor allem auch sächliche und finanzielle Ressourcen, um diese einzusetzen. Dabei ist es wichtig, dass Frustrationen bei der Einführung möglichst geringgehalten werden, um den oft bestehenden Anfangselan nicht zu bremsen.
Die Akzeptanz erhöht sich zudem, wenn die Nützlichkeit nachvollziehbar ist. Das bedeutet, inklusive Technik muss als etwas beworben werden, dass positive Effekte mit sich bringt. Es darf dabei nicht zur Sonderlösung für behinderte Menschen verkommen, sondern es muss den Mehrwert abbilden, den es für alle und nicht zuletzt für unser inklusives Zusammenleben hat.
Schließlich müssen auch diejenigen, die als Unterstützungskräfte behinderter Menschen tätig sind, ermutigt werden, den Einsatz von neuer Technik im Sinne der Weiterentwicklung von Inklusion zu unterstützen. Dann kann es gelingen, dass technologischer Fortschritt auch inklusiver Fortschritt wird.