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Die Mehrheit der über 70-Jährigen war noch nie im Internet

Was für die digitale Teilhabe getan werden muss

Prof. Dr. Herbert Kubicek - Senior Researcher am Institut für Informationsmanagement Bremen (ifib) und Wiss. Direktor der Stiftung Digitale Chancen Quelle: privat Prof. Dr. Herbert Kubicek Wissenschaftlicher Direktor Stiftung Digitale Chancen 28.01.2020
INITIATOR DIESER FACHDEBATTE
Uwe Schimunek
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info
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Digital-Experte Prof. Dr. Herbert Kubicek beobachtet, dass ein großer Teil älterer Menschen von der sozialen Teilhabe ausgeschlossen wird, weil analoge Angebote ausgedünnt werden und sie die digitalen Äquivalente nicht nutzen können. Dabei könnten gerade ältere Menschen mit eingeschränkter Mobilität von Onlinediensten besonders profitieren könnten.







Nach einer Untersuchung im Vorfeld eines deutschlandweiten Digitaltages steht hierzulande einer digital affinen Mehrheit eine Bevölkerungsgruppe entgegen, die digitalen Technologien skeptisch oder ablehnend gegenübersteht. Was bedeutet das für die Gesellschaft?
Solche Unterschiede gibt es schon seit 20 Jahren in den regelmäßigen repräsentativen Umfragen, u.a. der Initiative D21. Sie zeigen sich vor allem zwischen den Altersgruppen.  Bei den über 70-Jährigen ist die Mehrheit noch nie im Internet gewesen, bei den über 80-Jährigen sind 90 Prozent offline. Das liegt nicht nur an Skepsis und Ablehnung, sondern auch daran, dass sich Hartz IV Empfänger die Nutzung nicht leisten können oder andere wegen eines schlechten Gedächtnis / beginnender Demenz dazu nicht in der Lage sind.  Für die Gesellschaft bedeutet das, dass ein großer Teil älterer Menschen von der sozialen Teilhabe ausgeschlossen wird, weil analoge Angebote ausgedünnt werden und sie die digitalen Äquivalente nicht nutzen können, obwohl gerade ältere Menschen mit eingeschränkter Mobilität von Onlinediensten besonders profitieren könnten. Es bedeutet auch, dass die erhofften Entlastungen im Gesundheitswesen sich nicht in dem angestrebten Ausmaß realisieren lassen.

Bezahlen per App, Terminvergabe online – private, aber auch öffentliche Institutionen setzen verstärkt auf digitale Lösungen. Wie lässt sich verhindern, dass Digital-Skeptiker aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden?
Der Begriff “Digital-Skeptiker“ betrifft nur eine von mehreren Ursachen für die Nicht-Nutzung. Ältere Menschen gehen grundsätzlich anders mit Unbekanntem um als junge. Sie sind nicht an einer neuen Technik um ihrer selbst willen interessiert, sondern müssen einen unmittelbaren Nutzen für sich erkennen. Dazu müssen sie sich ein Smartphone oder Tablet anschaffen, einen Vertrag abschließen, einen Kurs besuchen u.a.m. Das tun sie aber nicht, wenn sie keinen Nutzen erwarten. Die Stiftung Digitale Chancen hat daher mit Telefonica Deutschland im Projekt „Digital mobil im Alter“ älteren Menschen über Seniorentreffs und Begegnungsstätten für drei Monate ein Tablet ausgeliehen, zusammen mit einer wöchentlichen Unterstützung beim Probieren. Dies hat sich sehr bewährt und wir haben daraufhin analog zum früheren Programm „Schulen ans Netz“ ein Programm „Senioreneinrichtungen ans Netz“ konzipiert und gefordert  - bisher leider ohne Erfolg. Angesichts der 10 Mio. Offliner über 70 Jahren sollten neben den Milliarden für die Digitalisierung der Schulen ein paar Hundert Millionen für die Einrichtungen bereitgestellt werden, in denen sich ältere Menschen informell weiterbilden.

Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass ein Teil der älteren Menschen wegen körperlicher oder geistiger Einschränkungen solche Einrichtungen nicht aufsuchen kann. Für sie wurde in Bremen ein Projekt mit aufsuchender Digitalassistenz erfolgreich durchgeführt. Für diese Gruppe, die mindestens zwei Millionen umfasst, ist eine Unterstützung bei der Nutzung digitale Dienste durch Nachbarschaftshilfe, Pflege(hilfs)kräfte in der ambulanten Pflege und in ähnlichen Diensten erforderlich.

Die Herausforderung wird am besten mit dem Begriff “Responsive Digitalisierungspolitik“ beschrieben. Das soll heißen, dass die Politik zusammen mit den in der Altenhilfe tätigen Ämtern und Verbänden verschiedene Motivations- und Unterstützungsmaßnahmen entwickeln und umsetzen muss, die den Unterschieden in den Wohnformen, sozialen Verhältnissen sowie finanziellen, körperlichen und geistigen Möglichkeiten der Zielgruppen Rechnung tragen.

Die Befragten schätzen ihre eigene digitale Kompetenz im Schnitt gerade einmal als ausreichend ein. Was muss diesbezüglich passieren?
Der Begriff „digitale Kompetenz“ ist nicht hilfreich, weil es kein einheitliches Verständnis gibt. Mal wird die Kenntnis bestimmter Begriffe abgefragt, mal geht es um die Fähigkeit zur Bedienung von Geräten oder der Nutzung bestimmter Anwendungen oder das Erkennen von Phishing Mails. Von wirklicher Kompetenz könnte man auch erst sprechen, wenn die Prozesse und Mechanismen im Hintergrund erklärt werden können, etwa warum bestimmte Werbung erscheint oder wie die Rangfolge der Treffer bei Google bestimmt wird. Wenn in der Umfrage Jüngere ihre Kompetenz im Durchschnitt nur als befriedigend einstufen, mögen sie sich auf dieses Verständnis der Prozesse im Hintergrund beziehen, während die Älteren an fehlende Bedienungsfertigkeiten denken.

Nach meiner Überzeugung muss zwischen der Grundbildung in der Schule, berufsspezifischen Kompetenzen und der Erwachsenenbildung für verschiedene Altersgruppen unterschieden werden. Es gibt eine spezielle Geragogik, die Pädagogik für das Lernen älterer Menschen. Hier ist noch sehr viel zu tun. Skepsis verlangt nach Aufklärung, und die kann gelingen, wenn sie auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten der jeweiligen Zielgruppe eingeht, eben responsiv ist. In meinem Buch mit Barbara Lippa „Nutzung und Nutzen des Internet im Alter“ haben wir 10 Grundsätze für eine responsive Förderung digitaler Kompetenzen älterer Menschen formuliert und die Stiftung Digitale Chancen hat dazu einen Leitfaden veröffentlicht.*


* https://www.digitale-chancen.de/content/downloads/index.cfm/aus.11/key.1553/lang.1

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