Die Prozesse in der Versicherungswirtschaft werden durch die Digitalisierung verändert. Wo steht die Branche in der Schweiz aus Ihrer Sicht auf dem Weg der digitalen Transformation?
Jederzeit an jedem Ort, persönlich, sofort und digital: so die Erwartungshaltung des Kunden. Das spricht gegen manuelle und dadurch lange Verarbeitungsprozesse im Hintergrund, gegen Massenansprache im Giesskannenprinzip und gegen komplizierte Versicherungsbedingungen. In der Realität sind es aber genau diese Dinge, welche dem Kunden von der Versicherungswirtschaft geboten werden.
Die digitale Transformation ist in der Schweizer Versicherungswirtschaft insofern fortgeschritten, dass der Bedarf an digitalen und kundennahen Lösungen erkannt ist. Auch die traditionellen Versicherer haben inzwischen digitale Kundenportale und bietet dem Kunden digitale Touchpoints wie z. B. mit Chatbots. Ein häufiger Trugschluss besteht aber darin, dass die Digitalisierung primär eine technische Entwicklung ist.
Die Digitalisierung muss im Alltag gelebt werden, was einhergeht mit einer neuen Kultur, neuen Fähigkeiten und neuen Werkzeugen. Wir alle haben in den letzten Jahren die Entwicklung in anderen Branchen erlebt. "The world is changing very fast. Big will not beat small anymore. It will be the fast beating the slow." Rupert Murdoch. Dieser Tatsache wird nicht nur mit neuen digitalen Lösungen Rechnung getragen. Nur wer sein Denken konsequent auf den Kunden ausrichtet, wer seine digitalen Fähigkeiten und Kultur weiter ausbaut und nach dem "Fail Fast" Prinzip Projekte lanciert, und sie gemeinsam mit Partnern und Kunden weiterentwickelt, wird längerfristig Erfolg haben.
An diesem Punkt der Transformation steht die Schweizer Versicherungswirtschaft. Der digitalen Transformation nach innen.
Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich für die Produkte der Branche aus datengetrieben Anwendungen wie etwa "Predictive Analytics"?
Klassische Versicherungsprodukte sind heute im Schweizer Markt stark standardisiert und bieten wenig Möglichkeiten zur Differenzierung. Viele Kunden interessieren sich kaum für das Versicherungsprodukt, haben trotzdem den Wunsch gut abgesichert zu sein. Das führt zu wenig Interaktion zwischen Kunde und Versicherung. Es werden Rechnungen und Schäden bezahlt.
Predictive Analytics bietet hier die Möglichkeit, den Kunden besser zu verstehen. Oft sind schon viele Daten vorhanden. Diese werden jedoch stark zweckgebunden oder einseitig ausgewertet. Analysen sind vergangenheitsbezogen, meist in der Annahme, das bereits Beobachtete ist eine gute Prognose für die Zukunft.
Durch die Verwendung von flexibleren und dynamischeren Modellen können Muster, Strukturbrüche, und Verhaltensänderungen besser erkannt werden. Wenn wir unsere Kunden besser verstehen, dann orientiert sich die Produkt- und Preisgestaltung entsprechend näher an den Bedürfnissen der Kunden. Es kann eine bessere Interaktion und erhöhte Kundenbindung entstehen.
In den letzten 100 Jahren hat sich Analytics in der Versicherungsbranche vor allem damit beschäftigt, wer wie häufig Schäden hat und wie teuer diese sind. Auf die Frage "was dem Kunden ein Produkt wert ist" wird auch heute noch kaum eingegangen. In den meisten anderen Branchen ist dies jedoch der Haupttreiber zur Preisbestimmung.
Die Frage lässt sich ohne Daten und gute Analysen nicht beantworten. Predictive Analytics kann helfen zu entscheiden, welche Produkte und Services eine Chance am Markt haben und welcher Preis dafür verlangt werden kann. Jene Unternehmen, welche in der Lage sind aus ihren Daten Wissen zu generieren, werden erfolgreich sein.
Welche Möglichkeiten und Gefahren sehen Sie, wenn Algorithmen und KI-Anwendungen mit Kundendaten arbeiten?
Wenn wir heute von KI-Anwendungen in der Versicherungsbranche sprechen, sind das Machine Learning Ansätze zur Mustererkennung in grösseren Datensätzen. Aber schon diese "einfachen" Anwendungen bieten Möglichkeiten, welche mit klassischen statistischen Analysen nicht erzielt werden können.
So können die Modelle mit wenig Aufwand neu trainiert werden und ergeben auf diese Weise rasch wieder gute Vorhersagen bei sich schnell ändernden Bedingungen. Aufwändige, auch repetitive Aufgaben und Analysen, sind automatisiert. Wird beispielsweise eine eingehende Kundenfrage schnell richtig zugeordnet, reduzieren sich Bearbeitungszeit und Qualität der Rückmeldung.
Natürlich gibt es auch Risiken. Ein Underwriter kann mit Erfahrung und Informationen auch auf neue Situationen eingehen. Ein Algorithmus läuft in Gefahr aufgrund "ähnlicher" Situationen eine Entscheidung zu treffen, die unangebracht ist. Solche Einzelfälle stellen aus finanzieller Sicht zwar kein Problem dar, führen aber zu Reputationsrisiken, insbesondere bei Sozialversicherungen.
Ein weiterer Konflikt besteht zwischen Ausgleich im Kollektiv und immer besserer Vorhersage-Möglichkeiten. Angenommen man wäre in der Lage, einen zukünftigen Schaden perfekt vorherzusagen. Trotzdem ist diese Vorhersage keine gute Grundlage für die Risikoprämie. Warum sollte jemand eine Versicherung mit dieser "perfekten" individuellen Prämie abschliessen? Zufall und Unsicherheit in der Schaden-Prognose, sowie die Solidarität in der Risikogemeinschaft sind die Basis für Versicherung. Hier gilt es die Balance zwischen genauerer, individueller Predictive Analytics und dem Versicherungsgedanken zu finden.
Der Einsatz von Algorithmen bringt viele Chancen für die Branche. Es braucht aber den Menschen für die Umsetzung und die richtigen Rahmenbedingungen.
Welche rechtlichen Rahmenbedingungen müssten eventuell angepasst werden, um die digitale Transformation der Versicherungsbranche zu unterstützen?
Ein Schlüsselelement in der digitalen Transformation der Versicherungsbranche sind Daten. Seit Bestehen der Branche werden Daten erhoben und genutzt. Mit der digitalen Transformation erschliessen sich ganz neue Datenquellen und Möglichkeiten zur Auswertung. Auf der anderen Seite steht der Wunsch nach Datenschutz und dem Recht auf Privatsphäre. Hier müssen Spielregeln im digitalen Umfeld gesetzt werden. Wer darf welche Daten zu welchem Zweck nutzen? Wem gehören die Daten? Was ist der Wert dieser Daten? Entscheidend ist, dass für alle Marktteilnehmer dieselben Regeln gelten.
Als weitere Frage stellt sich inwiefern Predictive Analysis mit Artikel 117 der AVO vereinbar ist. "Als Missbrauch gilt auch die Benachteiligung einer versicherten oder anspruchsberechtigten Person durch eine juristisch oder versicherungstechnisch nicht begründbare erhebliche Ungleichbehandlung." Zur Frage was eine "versicherungstechnisch nicht begründbare erhebliche Ungleichbehandlung" ist besteht weder unter Juristen Einigkeit noch gibt es dazu Gerichtsurteile. Da zukünftig immer mehr nicht durch Schaden oder Kosten begründete Komponenten in die Preisgestaltung und das Underwriting einfliessen, wird auch eine Diskussion der rechtlichen Rahmenbedingungen unabdingbar.