Als "Operation am offenen Herzen" bezeichnet Dr. Matthias Galus, Leiter des Digital Innovation Office am Schweizer Bundesamt für Energie (BFE), den Umbau der herkömmlichen, weitgehend starren Stromversorgungssysteme zu flexiblen Systemen, die mit Spitzen aus erneuerbaren Energien umgehen können. Das sei vor allem eine Herausforderung: "Es geht um die Transformation, also dem Umbau eines Systems, das historisch kaum dargebotsabhängige, dezentrale Produktion kannte. Nun gilt es technische Lösungen zu finden, die damit einhergehenden Anforderungen entsprechen und dabei den stabilen Betrieb jederzeit aufrecht zu erhalten."
Die Netze BW GmbH hat aktuell bei Anfragen zu Netzanschlüssen für PV-Anlagen und Wallboxen im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs von bis zu 80 Prozent verzeichnen. "Das ist ohne Digitalisierung nicht zu schaffen", weiß Bartholomäus Surmann, Head of Technology & Innovation im Unternehmen. Das Problem: Informationen über die tatsächliche Auslastung der Verteilnetze würden für Netzbetreiber daher immer wichtiger. Denn sie sind Grundlage für einen effizienten und vorausschauenden Netzausbau und -betrieb. Die Lösung: "Digitalisierung kann dabei helfen, „Licht“ ins Verteilnetz zu bringen und die Lastflüsse besser zu bewerten. Die erforderliche Transparenz in der unteren Spannungsebene ist jedoch noch nicht wie benötigt gegeben."
Welche Aufgaben sind zu lösen, damit sowohl die Digitalisierung der Energiebranche als auch die Energiewende bis 2045 gelingt? Prof. Dr. Rolf Litzenberger von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und Prof. Dr. Peter Missal, Lehrbeauftragter ebendort und an der TH Bingen, haben sich gemeinsam auf die Suche nach Antworten begeben. Sie sehen eine zentrale Rolle für die sogenannte Power-to-Gas Technologie. "Damit würde auch eine Vielzahl von Übertragungsnetzen obsolet." Mit Hilfe grün erzeugten Stroms lasse sich durch Elektrolyse einfaches Wasser (Formel: H20) in Wasserstoff (H2) und reinen Sauerstoff (O2) trennen; "dabei entsteht zusätzlich Wärme, die man darüber hinaus zum Heizen nutzen kann. Im Anschluß wird dieser Wasserstoff mit Kohlendioxid (CO2) zu Methan (CH4) umgewandelt, also zu Gas, das dann bequem in unterirdischen Speichern beliebig lange eingelagert werden kann".
"Die Energiewelt von morgen wird von vielen kleineren Produzenten und vielfältigeren Abnehmern dezentral dominiert", ist Carsten Tessmer überzeugt. Der Senior Manager Digital Grids bei der Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in München sieht einen großen Wandel: Die Erzeugung folgt nicht mehr dem Verbrauch, also Kraftwerkskapazitäten werden auf Basis von Verbrauchsprognosen verändert, sondern Verbrauch folgt der Erzeugung. "In diesem Fall nehmen neue Speicheroptionen, die durch die Sektorenkopplung im Wärme- und Mobilitätssektor entstehen werden, mehr Einfluss auf die Netz- und Systemstabilität durch eine bedarfsgerechte Ein- und Ausspeicherung von dezentral erzeugter Energie."
Die größten Herausforderungen in Sachen Stromversorgung und Energiewende liegen nach der Meinung von Prof. Dr. Alexander Bade, Inhaber der Professur "Energiewirtschaft und Management" an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen, "in der Anpassung der Infrastruktur und insbesondere in der organisatorischen Umsetzung der notwendigen Prozesse". Die Einspeisung dezentral erzeugten "grünen" Stroms erfordere ein vollständiges Umdenken nicht nur in Bezug auf die technische Infrastruktur, sondern auch auf die Rollen von Transport- und Verteilnetzbetreibern und deren Abstimmung untereinander. Die dafür nötige Digitalisierung sei bei Betreibern und Vermarktern dezentraler Erzeugungsanlagen weit fortgeschritten, auch in den Stromnetzen. "Allerdings sind Investitionen in Netzinfrastruktur kostenintensiv und müssen langfristig geplant werden."
"Die Digitalisierung ist das A und O, damit die Energiewende gelingt", betont auch Lars Petereit, Senior Referent Digitalisierung, Wärme und Mobilität beim Bundesverband Neue Energiewirtschaft (BNE). "Stromerzeugung, -speicherung, -handel und -verbrauch müssen in Zukunft sekundengenau und automatisiert nach Bedarf steuerbar sein. Dafür brauchen wir intelligente Messsysteme, die detaillierte Verbrauchs- und Erzeugungsdaten in Echtzeit liefern. Die Technologien dafür sind längst vorhanden, aufgrund der verschleppten Digitalisierung durch staatliches Micromanagement werden die Potenziale aber derzeit nicht genutzt. Eine der großen Herausforderungen wird daher, die dezentrale Erzeugung besser steuern zu können."
Das Energiesystem der Zukunft ist digital und sicher, prognostiziert auch Philipp Heilmaier, Bereichsleiter Zukunft der Energieversorgung in der Deutschen Energie-Agentur (dena). "Ein erneuerbares Stromsystem ist nachhaltig, resilient, sicher und unabhängig von fossilen Energieimporten." Was bleibt zu tun? "Die Stromnetze müssen auf allen Ebenen verstärkt und ausgebaut und die Verbindungen zu unseren europäischen Nachbarn erweitert werden. Für die wenigen Zeiten, in denen Sonne und Wind in Europa nicht ausreichen, um den Verbrauch zu decken, müssen außerdem flexible, mit erneuerbaren Gasen wie grünem Wasserstoff betriebene Kraftwerke aufgebaut und die Flexibilität von Verbrauchern nutzbar gemacht werden."
Über die digitalen Potentiale im ■ ■ ■
Was die Branche braucht - und was der Staat tun ■ ■ ■
EIN DEBATTENBEITRAG VON
Dr. Matthias Galus
Leiter Digital Innovation Office
Bundesamt für Energie (BFE)