In einem ersten Entwurf für eine Digitalstrategie der Bundesregierung heißt es nach Medienberichten, Deutschland stehe bei der Digitalisierung seit Jahren nur im Mittelfeld. Wie gefährdet sehen Sie die Zukunft des Landes?
Das erste Problem der Digitalstrategie ist, dass sie genau das nicht ist und sein kann: eine Strategie. Denn eine Strategie legt Ziele fest, die dann in einem deduktiven Prozess operationalisiert und realisiert werden. Die Digitalstrategie des Bundes ist demnach Etikettenschwindel, wie sie schon im ersten Absatz selbst zugibt: sie führe die politischen Schwerpunkte zusammen und bilde ein Dach, heißt es da. Ihre Entstehungsgeschichte ist also einfach erklärt: Sie zählt die bestehenden Projekte auf – entsteht also induktiv – und versucht sie mit den festgelegten gesellschaftspolitischen Zielen aus dem Koalitionsvertrag "zusammenzubinden", wie man im politischen Berlin so schön sagt. Bei wissenschaftlichen Papieren nennt man das ex-post-Rationalisierung, und es ist ein Schimpfwort: Das heißt, jemand hat die Ergebnisse schon vorher und bastelt sich dann nachträglich eine Geschichte zurecht, warum die genau so ausgewählt sein müssen. Vieles davon ist ja plausibel, aber etwas mehr Ehrlichkeit wäre ein Anfang.
Das zweite Problem ist, dass sich in der ersten Reihe der deutschen Politik niemand ernsthaft für Digitalisierung interessiert. Sie steht in Sonntagsreden ganz vorn, aber in der Realität hat man keine Ahnung davon und interessiert sich auch nicht dafür. Das sieht man beispielsweise daran, dass der zuständige Minister am Morgen der Vorstellung der Digitalstrategie dem Deutschlandfunk ein ausführliches Interview gibt und mit viel Herzblut redet – über das 9-Euro-Ticket und den ÖPNV, weil er ja im Hauptberuf Verkehrsminister ist. Und am Schluss findet er dann noch zwei Minuten, um pflichtschuldig und blutleer über Digitalisierung zu sprechen, "Leuchtturmprojekte" und so weiter.
Und das dritte Problem ist, daß es sich für einen Politiker, spieltheoretisch gesprochen, auch gar nicht lohnt, sich tief in die Materie einzuarbeiten. Man kommt ja ganz gut durch mit dem "Buzzword-Bingo", wie es Frau Alvarez von der Wiwo genannt hat. Berufspolitik setzt heute mit zwei Dingen Akzente: Entweder wird eine gesetzliche Vorgabe gemacht um Druck auszuüben (z.B. Online-Zugangsgesetz), oder es wird Geld investiert (z.B. Digitalpakt Schule). Ob das Ganze funktioniert oder das Problem löst, dafür fühlt man sich nicht zuständig. Und in den Bundesministerien ist das längst auch so. Danach lehnt man sich dann entspannt zurück und sagt, dass der Ball jetzt bei den anderen liege.
Darum kann ich mich auch nicht freuen, dass diese Digitalstrategie von ihren großsprecherischen Vorgängern abweichend anerkennt, dass Deutschland allenfalls im Mittelfeld steht. Denn das ist nicht der Anfang von: "Wir machen uns ehrlich und setzen neu an", sondern die Vorbereitung darauf, dass die – ohnehin schwammig formulierten – Ziele am Ende nicht erreicht sein werden. Geschickterweise sind die ja ohnehin zeitlich so festgelegt, dass man sich im nächsten Bundestagswahlkampf nicht daran messen lassen muss und die Folgeregierung dann das Problem hat. Diese Hütchenspielerei mag den politisch und in den Ministerien Verantwortlichen nützen, aber Deutschland wird dadurch immer weiter abgehängt. Wir sind nicht im Mittelfeld der ersten, sondern längst in der zweiten Liga, mit Tendenz zu den Abstiegsplätzen.
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Ende 2025 soll die Hälfte aller Haushalte mit Glasfaser und dem neuesten Mobilfunkstandard versorgt sein. Wie bewerten Sie dieses Ziel?
Mehr ist realistisch nicht zu erreichen. Im Endeffekt heißt das aber nichts als: "Weiter so". Ich hätte mir gewünscht, dass die neue Regierung anerkennt, dass der Zugang zum Internet eine Infrastrukturaufgabe ist und daraus die Notwendigkeit zu flächendeckender Infrastrukturplanung durch den Staat entsteht. Ich habe das damals bei Böhmermann schon einmal gesagt: Infrastruktur im Wettbewerb aufzubauen ist Unsinn. Im Festnetzbereich muss der Bedarf festgestellt werden und dann erst kommt der Wettbewerb um die Frage: Wer realisiert es?
Im Mobilfunkbereich ist es die unveränderte und weitgehend sinnfreie Art der Frequenzvergabe. Sie sorgt dafür, dass wir keine flächendeckende Versorgung haben, und außerdem zu hohe Mobilfunkkosten und zu hohe Strahlung. Inzwischen nehmen wir ja sinnloserweise auch noch 5 Mrd. Steuergeld in die Hand, um die Löcher zu stopfen. Niemand braucht drei oder vier parallele Mobilfunknetze. Wir brauchen ein physisches Netz, und das muss flächendeckend sein. Der Wettbewerb muss auf dem Netz stattfinden, und nicht um das Netz. Der Staat drückt sich hier vor seinen Aufgaben und überlässt die falschen Dinge dem Markt.
Für die digitale Verwaltung soll es eine sichere digitale Identität geben. Welche Herausforderung sehen Sie diesbezüglich?
Ich gehöre zu denjenigen, die mit einer einheitlichen Identifikationsnummer überhaupt kein Problem haben. Der Staat soll wissen, was er über mich wissen darf, und nicht dieses Wissen künstlich parzellieren müssen. Allerdings müßte glasklar geregelt werden, wofür diese Identität – bei staatlichen und privaten Anbietern – genutzt werden darf und wofür nicht, das ist bisher alles sehr schwammig. Ich weiß auch nicht, warum man die bereits vorhandene PKI mit dem Personalausweis nicht längst stärker nutzt, sondern das Rad neu erfinden will. Auch hier hat der Staat dem Markt Dinge überlassen, die der eben nicht regelt. Wenn man das vernünftig angeschoben hätte – wir sprechen also von den Vorgängerregierungen – hätte sich längst auch ein privates Dienstleistungsangebot entwickelt. Man kann weder die Usability noch dieses Henne-Ei-Problem einfach ignorieren, sonst steht man am Ende ohne Nutzer da. Und genau das ist dem digitalen Personalausweis passiert.
Aber die digitale Verwaltung, also der digitale Staat im engeren Sinne, krankt natürlich vor allem an einem: Niemand braucht einen digitalen Staat oder eine digitale Verwaltung. Das ist die falsche Sichtweise. Wir brauchen einen funktionierenden Staat und eine funktionierende Verwaltung. Deshalb geht es nicht um die Anpassung neuer IT an die bestehenden Gegebenheiten. Die Wirtschaftsinformatik hat schon vor 30 Jahren gelernt, dass die Einführung neuartiger Technologie einen kompletten Neuentwurf der Prozesse erfordert, sonst geht die Sache schief. Aber in Schulen, Behörden und Ministerien ist man nicht bereit, die alten und längst dysfunktionalen Abläufe zu hinterfragen: Warum tun wir das überhaupt? Was sind die Ziele? Wie können wir diese Ziele mit modernen Mitteln erreichen? Stattdessen pfropft man den alten Prozessen moderne Technologie auf und wundert sich, dass keine Fortschritte entstehen. Manchmal gibt es sogar Rückschritte, wie auf den Bürgerämtern, wo alle die Online-Terminvergabe loben und sich wundern, dass man keine Termine mehr bekommt – das ist ja kein Zufall. So geht das nicht.
Was sollte unbedingt noch in der endgültigen Digitalstrategie stehen - und was keinesfalls?
Ich habe mich gefreut, dass das unselige Wort "Blockchain" nicht mehr vorkommt. Schockiert war ich allerdings, dass auch "Pflichtfach Informatik" für die Schulen nicht vorkommt. Es gibt viele Dinge, die ich nicht begeisternd finde oder die fehlen, deshalb werde ich im Herbst 10 Thesen zur Digitalen Transformation Deutschlands vorlegen, die sind noch nicht abschließend fertig. Aber wenn ich nur eine einzige Ursache nennen müßte, warum große Teile der Bevölkerung und auch der Politik von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz sprechen wie die Blinden von der Farbe: weil sie es nicht in der Schule gelernt haben. Und da, wo in den Schulen Informatik draufsteht, ist längst nicht überall seriöse Informatik drin. Wenn Sie das Minister Wissing fragen, wird er vermutlich antworten, das sei ja schließlich Ländersache. Da kann ich nur antworten: Der ÖPNV auch – und in den mischt er sich gerade mit Leidenschaft ein.