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Interview07.02.2024

Automotive-Bereich in Thüringen unter Druck

Wo die Herausforderungen und Potenziale liegen

Rico Chmelik - Geschäftsführer, automotive thüringen e.V. Quelle: automotive thüringen e.V. Rico Chmelik Geschäftsführer automotive thüringen e.V.
INITIATOR DIESER FACHDEBATTE
Uwe Schimunek
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info
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"Thüringen ist eine Region mit starker Automobilkompetenz", sagt Rico Chmelik Geschäftsführer des automotive thüringen e.V.. Er nennt eine Reihe von Zahlen aus der Branche und wirft einen Blick in die Zukunft des Standortes.





Die deutsche Autoindustrie bewertet ihre Lage derzeit positiv, macht sich aber Sorgen um die Zukunft. Wie schätzen Sie die Situation der Branche in Ihrem Bundesland ein?
Wir haben Ende 2023 eine Konjunkturumfrage unter 235 Zulieferunternehmen in Thüringen durchgeführt, die insgesamt 55.000 Beschäftigte haben. Die anhaltende Nachfrageschwäche der Branche und die bekannten Belastungen des Industriestandorts Deutschland hinterlassen auch in der Thüringer Automobilzulieferindustrie ihre Spuren. Trotz dieser ernstzunehmenden Signale bleibt die Automobilzulieferindustrie der Region grundsätzlich optimistisch – noch. Aber es mehren sich seit letztem Jahr die Hinweise auf eine fortschreitende Verunsicherung und Zurückhaltung der Unternehmen, die nicht übersehen werden darf. Eine Auswertung nach Unternehmensgrößen zeigt überdies, dass Kleinunternehmen bis 50 Beschäftigte überdurchschnittlich betroffen sind. Diese Unternehmen konnten 2023 im Vergleich zum Vorjahr deutlich weniger bei Umsatz und Beschäftigtenzahlen zulegen (nur 12 % bzw. 9 % der Unternehmen). Auch eine Steigerung der Umsatzrendite gegenüber dem Vorjahr war nur 2 % dieser Unternehmen möglich (Durchschnitt aller Unternehmen 11 %). Die Investitionsbereitschaft der Unternehmen an den Thüringer Standorten ist gegenüber 2022 zwar leicht gestiegen (aber noch deutlich unter den Werten von 2021). Die wesentliche Veränderung betrifft jedoch die Bereitschaft zu Investitionen im Ausland. Während zwei Drittel der Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten eine Auslandsinvestition planen, liegt der vergleichbare Anteil bei Kleinunternehmen erwartungsgemäß deutlich niedriger (16 %). Nach einer Umfrage des VDA (Nov. 2023) plant ein gutes Drittel der deutschen Zulieferunternehmen, Investitionen aus Deutschland ins Ausland zu verlagern.

Dieses dominierende Investitionsmotiv können wir für die Thüringer Zulieferindustrie nicht bestätigen. Die bevorzugten Zielregionen sind (Süd)-Osteuropa und Asien vor Nordamerika und Westeuropa. Die zudem anhaltend hohen Energiepreise sowie Unsicherheiten in Bezug auf die generelle Versorgungslage stellen neben den bekannten Fachkräfteengpässen die Themen mit der höchsten Dringlichkeit dar. Lieferengpässe und Kostensteigerungen bei den Vormaterialien sowie nicht planbare Volumenreduzierungen seitens der Kunden sind auch in der aktuellen Zeit herausfordernde Faktoren für die Thüringer Automobil- und Zuliefererunternehmen. Eine Weitergabe der Mehrkosten an OEM und Tier1 wird oftmals mit dem Verweis auf bestehende Grundverträge abgelehnt. Wenn Umsatzzahlen, Umsatzrenditen und Beschäftigtenzahlen im Automotive-Bereich immer mehr unter Druck geraten, ist die Diversifikation und die Beschäftigung mit neuen Geschäftsfeldern das Gebot der Stunde. Dies haben Thüringer Zulieferunternehmen erkannt und ihre Bemühungen 2023 weiter intensiviert. Bemerkenswert und sehr erfreulich ist, dass diese Strategie von Unternehmen aller Betriebsgrößen verfolgt wird. Dies macht Mut für die Zukunft.

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Insbesondere die internationale Wettbewerbssituation wird als problematisch angesehen - wie unterstützen Sie die Branche in Ihrem Bundesland diesbezüglich?
Unsere Studien und Analysen verweisen darauf, dass die neuen Generationen von Fahrzeugen erhebliche Chancen in Produktbereichen abseits des Antriebs mit sich bringen. Diese Chancenpotentiale liegen zuvorderst in der Elektronik, dem Interieur und im Bereich Software. Wir greifen diese Themen auf und bauen in Innovationsprojekten neue Wertschöpfungsnetzwerke auf, mit dem Ziel, in der Region vorhandene Potentiale aus Industrie und Wissenschaft projektorientiert zu bündeln. So haben wir seit 2021 ein Innovationscluster „Interieur der Zukunft aus der Zulieferindustrie“ (IZZI) mit derzeit 18 Industriepartnern aufgebaut, das mit konkreten Projektideen einhergeht und die verschiedenen Kompetenzen der beteiligten Unternehmen sinnvoll und richtig zusammenführt.

Eine weitere Chance für die Thüringer Zulieferindustrie besteht im Produktbereich Elektronik und Software im Zuge des hochautomatisierten und autonomen Fahrens mit vernetzten Fahrzeugen sowie im Bereich der leichten, elektrischen Nutzfahrzeuge (LCV). Wir entwickeln dazu Möglichkeiten für regionale und überregionale Verbundvorhaben konkrete Projekte. Unser Netzwerk ist ein anwendungsorientiertes Themen- und Projektcluster und damit mehr als nur ein Kommunikationsnetz und Interessenvertreter. Die Vernetzung zwischen Industrie und Forschung mit konkreten Projekten für die Region ist unsere DNA.

Neben den Zulieferern sind bei uns auch Ausrüster, Maschinenbauer, Forschungseinrichtungen und Industriedienstleister organisiert. Dieses Knowhow bündeln wir technologie- (Kompetenzen) und marktseitig (Produkte), um neue Partner einzubinden und zu gewinnen. Die Teilhabe an Projekten zum Aus- und Aufbau von gemeinsamem Knowhow und Wissen innerhalb des Netzwerks ist dabei eines der leitführenden Ziele. Hierzu haben wir mit dem Thüringer Innovationszentrum Mobilität (ThIMo) eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet, so dass wir künftig noch gezielter und intensiver Projektideen mit den Partnern aus der Industrie und Forschung entwickeln und umsetzen können. Ob neue Konzepte der Fahrzeugelektrik, Vernetzung und IT, oder Leichtbau im Automobilbau und bei Nutzfahrzeugen – diese und weitere Themen wollen wir mithilfe der strategischen Kooperation künftig fokussiert mit der regionalen Zulieferindustrie umsetzen. Mit der neuen Partnerschaft soll auch der Kontakt zwischen Wirtschaft und Wissenschaft inner- und außerhalb Thüringens noch einfacher und effektiver werden. Es wäre ein großartiger Meilenstein, wenn es gemeinsam gelingt, einen originären Systemlieferanten für autonom fahrende Fahrzeuge am Ende dieses Jahrzehnts aus Thüringen hervorzubringen.

Nicht zuletzt viele Mittelständler investieren in experimentelle Konzepte, selbst bei der Gefahr einer Fehlinvestition - wie innovativ ist die Branche in Ihrem Bundesland aus Ihrer Sicht?
Thüringen ist eine Region mit starker Automobilkompetenz. Unsere Tiefenanalysen von 2018 und 2022 haben dies sehr deutlich gezeigt. Der Fahrzeugbau in Thüringen fußt auf einer mehr als 120-jährigen Tradition. Heute sind neben Opel/PSA und BWW am Traditionsstandort Eisenach eine Vielzahl leistungsfähiger Zulieferer, Dienstleister und Ausrüster in der Region vertreten, die die gesamte automobile Wertschöpfungskette abbilden. Thüringens Zulieferindustrie verfügt über zahlreiche „Leuchttürme“, deren innovative Produkte weltweit für Bewegung sorgen. So befindet sich einer der größten Motorenbau-Standorte von Daimler in Thüringen. Bosch produziert High-Tech-Sensoren mit Alleinstellungsmerkmalen im Konzern und auch die Marquardt-Gruppe ist mit Interieur- und Batteriesystemen im Freistaat engagiert. Seit über einem Jahr ist in Thüringen zudem mit CATL die erste Batteriezellfertigung in Produktion in Deutschland. In Thüringen arbeitet auch das größte Leichtmetallräder-Werk Europas. Leichtbaustrukturen, Doppelkupplungen und Interieurmodule für Premium- und Oberklassefahrzeuge kommen aus dem Freistaat. Mindestens zehn integrierte Schaltkreise in jedem Fahrzeug produziert ein Thüringer Hersteller. Technologieführerschaften Thüringer Unternehmen liegen z. B. in der Herstellung von Optiken für Automobilscheinwerfer, umschaltbaren Sichtschutzfiltern für Fahrzeugdisplays, keramischen Sensoren und Luftgütesensoren. Diese Kompetenzen unterstreichen die Leistungsfähigkeit und das Zukunftspotenzial der Zulieferunternehmen.

Hervorzuheben ist, dass viele dieser Firmen ihren Hauptsitz außerhalb Thüringens haben, diese aber eine außerordentliche Bedeutung für die Entwicklung der Thüringer Automobilzulieferindustrie besitzen. Auch die vorherrschende Kleinteiligkeit – Betriebsgrößen mit bis zu 250 Mitarbeitern bilden den Löwenanteil – steht einer dynamischen Entwicklung nicht automatisch im Wege, wie die Revitalisierung der Branche in den letzten beiden Jahrzehnten belegt. Dem automobilen Wertschöpfungskern gehören neben den Automobilherstellern und der Vielzahl an Teile- und Modullieferanten noch weitere Unternehmen an wie Entwicklungsdienstleister, Dienstleister für produktbezogene Services von der Materialbereitstellung bis zur Qualitätssicherung sowie die Hersteller von Anlagen und Maschinen. Dieser automobile Wertschöpfungskern wird auch in Thüringen durch eine leistungsfähige Hochschul- und Forschungslandschaft unterstützt.

Als ein Problem gilt der Fachkräfte-Mangel. Wie lässt sich dieser abmildern?
Im Zentrum des automobilen Strukturwandels stehen Veränderungen im Produkt mit neuen Antrieben, neue Materialien, neuen Fahrzeugplattformen und neuen Elektronik- und Software-Architekturen, die wiederum Veränderungen in der automobilen Wertschöpfung zur Folge haben. Wir haben dazu mit dem Chemnitz Automotive Institute (CATI) eine Studie zur „Kompetenzentwicklung Zukunft Automobil in Thüringen“ erarbeitet. Im Projekt haben wir sowohl die Bedarfe an künftig notwendiger Kompetenzentwicklung ermittelt als auch aktuelle Kompetenzprofile der Unternehmen in Thüringen erhoben. Daraus werden wir Vorgehensweisen für die Fachkräftequalifizierung ableiten.

Die Studie, die im Rahmen des Projektes Thüringer Kompetenzverbund Automotive (TKA) veröffentlicht wurde, hat uns passgenaue Handlungsempfehlungen zur Fachkräftesicherung bereitgestellt. Bestimmte Wertschöpfungsumfänge werden überflüssig und entfallen und andere Wertschöpfungskomponenten bestehen fort, müssen aber für neue Anforderungen modifiziert werden. Und bislang nicht benötigte Wertschöpfungsleistungen müssen neu entwickelt und aufgebaut werden. Dies geschieht parallel und gleichzeitig mit einem Nebeneinander von Arbeitsplatzentfall, Arbeitsveränderung und Arbeitsplatzaufbau. Hierzu gehen wir in Pilotprojekten mit Partnern aus der Industrie in neue Formate der Qualifizierung des Bestandspersonals.

Das heutige Anforderungs- und Qualifikationsprofil der Automobilzulieferindustrie verdeutlicht, dass Ergänzungsqualifikationen beim Bestandspersonal insbesondere für das Beschäftigungssegment der Fachkräfte und Aufstiegsqualifikationen von wesentlicher Bedeutung sind. Zur Bewältigung des automobilen Strukturwandels stellt nicht zuletzt eine frühzeitige und auf Zukunftsfelder ausgerichtete Kompetenzentwicklung eine unverzichtbare Voraussetzung dar.

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