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Von Teilöffentlichkeiten und Parallelwelten

Wie Falschinformationen und persönliche Angriffe schon immer wirken - und was neu ist

Dr. Jasmin Siri - Vertretungsprofessorin für Politische Soziologie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt Quelle: privat Dr. Jasmin Siri Soziologin Universität Erfurt 10.09.2021
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"Wir alle müssen erst noch lernen, mit der großen Varität an Meinungen und Haltungen im Netz umzugehen", sagt die Soziologin Dr. Jasmin Siri. So könnte es mit den Jahren ein Zivilisierungseffekt im Netz geben. Bei aller Unterschiedlichkeit aber gibt es einen Moment, der die Bürgerinnen und Bürger zusammenzurrt.







Der digitale Raum gibt jedem Nutzer die Möglichkeit sich zu äußern – zugleich bietet er Raum für Falsch-Informationen und persönliche Angriffe. Wie sollte die Politik die Debattenkultur im digitalen Raum ganz grundsätzlich stärken?
Die Frage weist auf einen sehr wichtigen Sachverhalt hin, die die Einführung eines jeden neuen Mediums begleitet. Es ist Neues möglich und es müssen sich soziale Regeln ausbilden und einspielen. Für das digitale Medium bedeutet das in der Tat, dass mehr Menschen sich äußern können als je zuvor. Jeder und jede kann sich nun als Autor oder Autorin betätigen, ganz unabhängig von Expertise oder einer journalistischen Ausbildung. Während Medien wie Zeitung oder TV der Leser- oder Zuschauerschaft Passivität verordneten, sind die Plattformen des Digitalen häufig solche, in denen viele zu vielen sprechen und eine direkte Kommentierung möglich ist. So zum Beispiel in den sozialen Medien. Und selbstverständlich führt das dazu, dass dort auch politische Auseinandersetzungen geführt werden. In politischen Auseinandersetzungen gab es nun schon immer Falschinformationen und persönliche Angriffe. Sie gehören zu Wahlkämpfen und politischen Kämpfen mit dazu. Mein Lieblingsbeispiel ist ein fälschlich konnotiertes Bild von Friedrich Ebert in Badehosen im Jahre 1919. Und natürlich können wir auch an die Propaganda im kalten Krieg denken, in der Wahrheit auch eine sehr gefährdete Tugend war - ganz ohne Internet. Oder an die vielen Menschen, die aus politischen Gründen bis heute von Regierungen verfolgt werden, die eben nicht wollen, dass sie politische Macht erlangen. Durch so eine Kontextualisierung wird deutlich, dass wir es nicht mit neuen Phänomenen zu tun haben sondern eher mit einem alten Phänomen im neuen Gewand. Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass an der Frage nichts dran ist. Denn in der Tat lassen sich Teilöffentlichkeiten beobachten, die in Parallelwelten abzugleiten scheinen - zum Beispiel im Kontext der Verschwörungstheorien. Auch das gab es schon lange zuvor, Verschwörungstheorien lassen sich bereits im alten Rom finden. Aber neu ist, dass alle anderen das mitlesen und mitverfolgen können, was ein verstörendes Gefühl erzeugen kann. Die Erfahrung der Bürgerinnen und Bürger im 21. Jahrhundert ist es, dass ihre Meinung, dass das, was sie selbst für vernünftig und rational ist, von anderen komplett anders beurteilt wird.

Wie kann nun die Debattenkultur grundsätzlich gestärkt werden? Nun einerseits sicher dadurch, dass man sich selbst darüber klar wird und auch mit anderen darüber redet, wie man sich gegenseitig in Netzwelten behandeln möchte. Man könnte sich zum Beispiel als Partei dazu verpflichten, keine Falschinformationen und persönlichen Angriffe vorzunehmen. Wir alle müssen erst noch lernen, mit der großen Varität an Meinungen und Haltungen im Netz umzugehen - und vielleicht auch, manchmal etwas auszublenden. Dafür, dass dies möglich ist spricht, dass eine Vielzahl der Hassbotschaften im Netz nicht von jungen Menschen, sondern von Menschen über 60 Jahren stammt. Das könnte dafür sprechen, dass hier mit den Jahren ein Zivilisierungseffekt eintreten wird. Politik und Parteien jedenfalls können vor allem ein gutes Vorbild sein und sich selbst unfairen Angriffen und der Nutzung von Desinformation enthalten.

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Experten beobachten die Tendenz, dass Nutzer sich im digitalen Raum gläsern oder sozial unter Druck fühlen und in der Folge selbst zensieren. Was bedeutet dieses "Social Cooling" aus Ihrer Sicht für die demokratische Debattenkultur?  
Die Idee der Selbstzensur im Politischen ist ebenfalls keine neue. Elisabeth Noelle-Neumann hat dies in den 1970er Jahren bereits mit dem Begriff der "Schweigespirale" formuliert. Grundsätzlich ist es keine Überraschung, wenn sich Menschen im digitalen Raum sozial unter Druck fühlen - denn das tun sie immer dann, wenn sie "in Gesellschaft" sind. Ich beispielsweise überlege mir beim Twittern oft: Ist es ok und mit meiner Rolle als Dozentin konform, dies oder das zu posten? Will ich wirklich, dass meine Studierenden dies oder jenes aus meiner Feder lesen? Nun empfinde ich diesen Druck nicht als problematisch sondern sogar als Teil meines Berufes, mir darüber im Klaren zu sein aber dennoch ist es im Sinne der Frage ein sozialer Druck. Die Frage ist immer die Referenzgruppe, an die ein Nutzer oder eine Nutzerin denkt. Wenn ich zum Beispiel als Referenzgruppe an meine Querdenkerfreunde denke, werde ich ganz andere Dinge nicht schreiben als wenn ich an meine Freunde aus der Gewerkschaftsbewegung denke und so weiter. Wenn das Social Cooling jedenfalls dazu führt, dass sich Menschen genauer überlegen, wie sie sich öffentlich äußern, dann habe ich dagegen nichts auszusetzen. Wenn sie ihre Meinung auch höflich und freundlich nicht sagen, weil sie soziale Sanktionen befürchten, dann ist das weniger gut für die demokratische Debatte. Insbesondere bei politisch aufgeheizten Themen kommt das sicher immer wieder vor. Ein aktuelles Beispiel wäre das Thema Impfen. Das ist so umkämpft, dass die Wahrscheinlichkeit, online etwas auf die Nase zu bekommen, nicht gering ist. Wir müssen dabei aber immer auch daran denken, dass ein Großteil der Menschen in Sozialen Medien sowieso nichts bis wenig posten - was wir sehen ist also schon eine Auswahl derer, die sich traut oder Lust hat, sich öffentlich darzustellen. Die Mitlesenden sind dagegen oft verborgen.

Wie lässt sich im Angesicht individueller Algorithmen-gesteuerter Anzeige von Inhalten auf großen Plattformen ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs aufrechterhalten?
Gar nicht, vermutlich. Zumindest eben nicht "EIN" Diskurs. Eine der Lehren des letzten Jahrhunderts - die von soziologischen Denkern wie Jürgen Habermas oder Pierre Bourdieu bereits weit früher geäußert wurde als jetzt von mir - ist es, dass es "die Öffentlichkeit" im Singular, den einen Raum der Verständigung, empirisch so nicht gibt. Vermutlich nie gegeben hat. Immer waren zum Beispiel sehr viele Menschen ausgeschlossen oder haben sich nicht interessiert. Es gab mächtige Stimmen, die andere übertönt haben und es gab auch schon immer Kontexte, die  sich rausgezogen haben aus dem, was scheinbar Mehrheitsmeinung war. Und in digitalen Welten und ohne die mächtigen Gatekeeper, die entscheiden, was und wer wichtig ist, wird uns das jetzt allen deutlich. Es gibt sehr  unterschiedliche Teilöffentlichkeiten, die sehr unterschiedliches richtig und wichtig finden. Es gibt sehr unterschiedlich politisch interessierte Menschen. Demokratietheoretisch könnte man sagen, dass der Moment der Wahl die Bürgerinnen und Bürger zusammenzurrt - wenn sie denn bereit sind, sich zu beteiligen. In der Wahl wird darüber entschieden, wie die Mehrheitsverhältnisse aussehen und wie es politisch weitergehen soll.

Nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz haben die großen Plattformen seit einiger Zeit die Aufgabe, möglicherweise strafbare Inhalte selbst zu löschen. Wie fällt Ihr Fazit mit der Umsetzung der Vorschriften aus?
Ich war kein Fan dieses Gesetzes, weil ich nicht  daran geglaubt habe, dass es praktisch funktionieren wird. Das sollte ich sagen, bevor ich meine Antwort gebe, damit die Leserinnen und Leser das einordnen können. Denn es war erstens vollkommen erwartbar, dass die Unternehmen (und das sind sie ja, anders als zum Beispiel der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der sich an spezifische rechtliche Bindungen halten muss) dann reagieren, wenn sie einen wirtschaftlichen Schaden erwarten - und das dann nicht im Sinne einer demokratischen Abwägung über Freiheit der Rede sondern im Sinne der Gefahrenabwehr. Und das ist ihr gutes Recht, weil sie eben Unternehmen sind und keine Zeitung, kein Radio und kein TV-Sender. Mir hätte es besser gefallen, wenn man gesagt hätte: Diese Unternehmen müssen zumindest teilweise ähnlich behandelt werden wie ein Massenmedium, wenn man also ein Medienrecht geschaffen hätte. Und zweitens fällt mein Fazit auch deswegen etwas verhalten aus, weil noch eine zweite erwartbare Konsequenz eingetreten ist: Die besonders radikalen Haltungen wandern teilweise in andere Netzwerke ab. Teilweise, weil sie natürlich auch in den anderen Medien bleiben, dort aber vorsichtiger agieren. Sie weisen aber auf ihre anderen Kanäle hin und leiten so die Menschen auf andere digitale Orte um. So finden sie Rechtsextreme und Querdenker aber auch andere radikale Gruppen eben nun auch auf Telegram, wie viele Berichte schon dargestellt haben.

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