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Föderalismus bedeutet Perspektivenvervielfachung und Bewertungsvielfalt

Warum der Entwurf zum Jugendschutzgesetz noch nicht richtig passt

Prof. Dr. Murad Erdemir - Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen, Lehrbeauftrager für Jugendmedienschutzrecht am Mainzer Medieninstitut Quelle: pr Prof. Dr. Murad Erdemir Stv. Direktor LPR Hessen 06.04.2020
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Uwe Schimunek
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info
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"Ein unter Freundschaftsgesten schwelender Zuständigkeitsstreit zwischen Bund und Ländern hilft letztlich keinem und schadet nur dem Anliegen an einen zukunftsfähigen Jugendmedienschutz", sagt Prof. Dr. Murad Erdemir. Der Wissenschaftler und Experte für Jugendmedienschutzrecht ist auch Stv. Direktor der Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (LPR Hessen). Auch wenn er die grundsätzliche inhaltliche Neuausrichtung des JuSchG sehr begrüßt, bleibt aus seiner Sicht noch eine Menge zu tun.







Wie fügt sich der Entwurf zum neuen Jugendschutzgesetz (JuSchG) aus Ihrer Sicht in die bestehenden Regeln der föderalen Bundesrepublik (etwa: Jugendmedienschutz-Staatsvertrag/JMStV) ein?
Leider überhaupt nicht! Zentrales Anliegen der Medienpolitik muss es sein, in einer zunehmend konvergenten Medienwelt ein entsprechend kohärentes System zu entwickeln. Dabei haben die Länder mit dem JMStV bereits eine einheitliche Rechtsgrundlage für den materiellen Jugendschutz in den Online-Medien, also für Rundfunk und Telemedien, geschaffen. Indem der Bund nun in beachtlichem Umfang Jugendschutzterrain im Bereich der Telemedien an sich zieht, trägt er zu einer Zersplitterung des Jugendmedienschutzrechts und nicht zu dessen Einheit bei. Dabei weist die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes die inhaltliche Aufsicht über Rundfunk unmissverständlich den Ländern zu. Und auch bei Telemedien liegt die Zuständigkeit jedenfalls dann eindeutig bei den Ländern, wenn die Angebote Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung nehmen können. Der Bund wird also niemals den gesamten Jugendmedienschutz einfordern können, wohingegen die Länder mit ihrem staatsvertraglichen Instrumentarium des kooperativen Föderalismus die Materie durchaus auch allein stemmen könnten. Zudem bedeutet Föderalismus Perspektivenvervielfachung und Bewertungsvielfalt. Weil einfach mehr Stimmen gehört werden müssen. Für die Entwicklung und Anpassung grundlegender Wertungen und die Ausfüllung normativer Rechtsbegriffe im Jugendmedienschutz ist das ausgesprochen hilfreich.

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Der Entwurf sieht den Ausbau der Bundesprüfstelle zur Bundeszentrale für Kinder-und Jugendmedienschutz vor. Was halten Sie davon?
Mit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien soll eine im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelte Bundesoberbehörde für Kinder- und Jugendmedienschutz im Bereich der Telemedien etabliert werden, die sich zugleich auf dem Gebiet der Online-Medienpädagogik positioniert. Das verträgt sich nicht mit dem medienrechtlich grundlegenden Gebot der Staatsferne. Und Bildung ist bekanntlich Ländersache. Dabei darf man auch nicht vergessen, welches gesetzliche Umfeld die Bundesprüfstelle über Jahrzehnte geprägt hat. Das JuSchG folgt derzeit noch unumwunden dem Leitbild eines paternalistischen Fürsorgestaates. Und zwar mit deutlich bewahrpädagogischer Ausrichtung. Tragende Elemente pluraler gesellschaftlicher Binnenkontrolle sucht man hier vergebens. Der Vertrauensvorschuss für die Bundesprüfstelle ist mithin beachtlich.

Der Entwurf befasst sich mit sogenannten Interaktionsrisiken wie Cybermobbing oder Persönlichkeitsrechtsverletzungen - wie bewerten Sie die diesbezüglich geplanten Regeln?
Grundsätzlich positiv! Der aktuelle Entwurf verpasst dem JuSchG weit mehr als nur einen modernen Anstrich. Er adressiert die neuen Nutzungsrisiken im Netz. Und er verwendet hierfür Bausteine der Anreizregulierung und der Befähigung zum Selbstschutz. Mithin Bausteine eines sogenannten intelligenten Risikomanagements. Ein Konzept, welches ich schon seit Längerem für den JMStV einfordere. Die Länder haben es dagegen bis heute versäumt, den Staatsvertrag zugleich offen für gesellschaftliche Veränderungen und hochdynamische Angebotsentwicklungen in konvergenten Medienumgebungen zu gestalten. Auf die neuen Anforderungen aufgrund gewachsener Kommunikations- und Interaktionsrisiken für Kinder und Jugendliche im Netz findet der Staatsvertrag bislang leider keine Antworten.

Was sollte aus Ihrer Sicht in ein endgültiges JuSchG unbedingt noch aufgenommen und was unbedingt aus dem Entwurf gestrichen werden?
Meine Wunschliste passt nicht auf ein Blatt Papier! Wenngleich ich die grundsätzliche inhaltliche Neuausrichtung des JuSchG auch sehr begrüße. Allerdings fehlt es dem Entwurf strukturell an hinreichenden Verzahnungen zum JMStV. Und es fehlt an hinreichenden Verzahnungen zur seit vielen Jahren bewährten, dabei staatsfern organisierten Aufsicht der Landesmedienanstalten und ihrer Kommission für Jugendmedienschutz über Rundfunk und Telemedien. Dies führt zum Aufbau von Doppelstrukturen und unklaren Zuständigkeiten. Viele zentrale Bestimmungen sind zudem umständlich formuliert und vom geradezu epischem Ausmaß. Auch dies trägt zur Rechtsunsicherheit bei. Daher mein dringlicher Appell: Bund und Länder müssen noch einmal an einen Tisch! Denn eines muss in jedem Fall klar sein: Ein unter Freundschaftsgesten schwelender Zuständigkeitsstreit zwischen Bund und Ländern hilft letztlich keinem und schadet nur dem Anliegen an einen zukunftsfähigen Jugendmedienschutz. Es ist höchste Zeit für pragmatische gemeinsame Lösungen!

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