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Experte erwartet keine großen Umstellungen bei Arbeitszeiterfassung

Was das EuGH-Urteil bedeutet

Prof. Dr. Enzo Weber - Forschungsbereichsleiter Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Universität Regensburg Quelle: IAB/ Jutta Palm-Nowak Prof. Dr. Enzo Weber Forschungsbereichsleiter Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Universität Regensburg 18.06.2019
INITIATOR DIESER FACHDEBATTE
Uwe Schimunek
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info
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"Nach Arbeitszeitgesetz ist bereits heute die über die werktägliche Arbeitszeit hinaus gehende Arbeitszeit, also Überstunden, aufzuzeichnen", betont Prof. Dr. Enzo Weber von der Uni Regensburg. Daher werde es nach dem Urteil des EuGH, das eine umfassende Arbeitszeiterfassung vorschreibt, auch keinen grundlegenden Paradigmenwechsel geben.







Der EuGH hat eine umfassende Arbeitszeiterfassung vorgeschrieben, um unzulässige Arbeitszeitüberschreitungen von Mitarbeitern zu unterbinden. Wie groß ist das Problem der unzulässigen Mehrarbeit Ihrer Ansicht nach?
Nach EuGH-Urteil muss die tägliche Arbeitszeit der Beschäftigten erfasst werden. Die auf das Urteil folgende Diskussion legte nahe, dass es damit einen Paradigmenwechsel in der Art geben werde, wie wir arbeiten. Dies ist aber nicht der Fall, wenn man die Implikationen des Urteils mit der geltenden Rechtslage vergleicht. Nach Arbeitszeitgesetz ist bereits heute die über die werktägliche Arbeitszeit hinaus gehende Arbeitszeit, also Überstunden, aufzuzeichnen. Wer aber bereits Überstunden erfasst, der muss offensichtlich erst einmal feststellen, ob Normalarbeitszeit geleistet wurde. Dann nicht „+1h“ sondern etwa „9h“ festzuhalten, ist normalweise keine große Umstellung.

Nach der IAB-Arbeitszeitrechnung liegt die Zahl der unbezahlten Überstunden längerfristig auf einem konstanten Niveau, in den vergangenen Jahren hat sie abgenommen. Die Zahl der bezahlten Überstunden ist seit der Wiedervereinigung zurückgegangen, zugunsten der sich immer stärker etablierenden Arbeitszeitkonten. Während also kein Trend einer Verschärfung erkennbar ist, hat eine Begrenzung der Arbeitszeit im Sinne eines Schutzes der Beschäftigten vor Überlastung hohe Bedeutung. Einschlägige Studien zeigen bei überlangen Arbeitszeiten schädliche Effekte auf die Gesundheit ebenso wie deutlich sinkende Leistungsfähigkeit. Die Arbeitszeitgesetzgebung muss diesen Schutz also weiterhin gewährleisten, dabei aber auch unnötige Einschränkungen der betrieblichen Flexibilität vermeiden.

Einige Experten sehen mit Urteil das Ende der Vertrauensarbeit gekommen. Wie sehen Sie das?
Nach meiner Auffassung impliziert das Urteil für die Vertrauensarbeitszeit keine große Einschränkung gegenüber der geltenden Rechtslage. Vertrauensarbeitszeit bedeutet im Kern, dass der Arbeitgeber darauf verzichtet, die Arbeitszeit zu kontrollieren. Vertrauensarbeitszeit ist aber keine rechtliche Kategorie in dem Sinne, dass eine solche Vereinbarung die Regeln des Arbeitszeitgesetzes aufheben würde. Die Erfassung von Überstunden war bisher also auch notwendig, nach EuGH-Urteil wird es künftig die Gesamtarbeitszeit sein. Das bedeutet aber keineswegs wie oft suggeriert, dass der Arbeitgeber die Messung der Arbeitszeit in allen Fällen selbst vornehmen müsse. Vielmehr kann er Aufgaben dabei delegieren. Eine solche Delegation ist bereits die Anweisung, beim Verlassen des Betriebs eine Stechuhr zu betätigen, und ebenso kann das Notieren der bspw. zu Hause geleisteten Arbeitszeit dem Beschäftigten übertragen werden. Wer auf Kontrolle verzichtet – also Vertrauen gewährt – muss die Angaben dann natürlich auch gelten lassen. Wie die Arbeitszeit dann erfasst wird – ob auf Papier, in einer Exceltabelle, in einer Personalsoftware etc. – obliegt der Entscheidung des Betriebs, der also große Flexibilität behält.

Aus dem Arbeitszeitgesetz ausgenommen sind leitende Angestellte, die natürlich oft in Vertrauensarbeitszeit tätig sind. Diese Ausnahme begründet sich aber über die Stellung im Beruf, nicht über die Organisation der Arbeit.

Viele Experten sehen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Arbeit und Freizeit – etwa, wenn ein Wissenschaftler nachdenkt. Wie lässt sich da eine Trennlinie ziehen?
Vor allem wenn Arbeit zu Hause geleistet wird, lässt sich nicht immer eine objektiv richtige Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit bestimmen. Daraus aber generelle Argumente gegen eine Erfassung von Arbeitszeiten abzuleiten, bedeutet das Kinde mit dem Bade auszuschütten. In den allermeisten Fällen ist klar, ob eine Tätigkeit der Arbeit zuzurechnen ist, und es geht mehr darum, die zeitliche Verteilung der Arbeit praktikabel zu handhaben. Eine Erfassung der täglichen Arbeitszeit lässt sich dann durchaus bewerkstelligen. Die oft als Schreckgespenst vorgeführte Exaktheit bis auf die letzte Minute ist nach dem Geist der Arbeitszeitregulierung gar nicht nötig.

Im Gespräch sind nun auch Apps zur Arbeitszeiterfassung. Wie sollten Mitarbeiter vor umfassender Überwachung geschützt werden?
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung aus dem EuGH-Urteil impliziert keinesfalls eine Pflicht zu verstärkter Kontrolle. Gerade im Zuge der Digitalisierung liegt es aber natürlich nahe, auch neue digitale Hilfsmittel zur Arbeitszeiterfassung heranzuziehen. Eine dafür verwendete App muss aber keineswegs Echtzeitdaten an den Arbeitgeber liefern, sondern kann auch einfach nur als Hilfestellung für den Beschäftigten konzipiert werden. Derartige Entwicklungen, welche die Arbeitszeiterfassung gerade in flexiblen Arbeitsformen erleichtern, sind durchaus zu begrüßen.

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