Herr Helbig, erleben wir gerade in der Klassik die Geburtsstunde eines neuen Genres? Komponisten wie Sie oder Nils Frahm, Ludovico Einaudi oder Max Richter gelten als neue Stars der Klassik, was macht diese neue Komponistengeneration aus?
Die genannten Komponisten stehen vor allem selbst auf der Bühne. Damit rücken sie als Performer in die Nähe anderer Genres, wo der Autor der Musik mitunter hinter dem Interpreten zurücktritt. Damit entsteht eine andere Wahrnehmung von beiden Seiten: dem darbietenden Komponisten ist es nicht mehr egal, wer seine Musik hört und das Publikum hat über die Person des Künstlers einen anderen Zugang zur Musik, damit auch eine intensivere Bindung. Hinzu kommt, dass für die genannten Komponisten Einflüsse aus der elektronischen Musik und der Bandkultur wichtig sind. Orchesterinstrumente und die Tradition der Orchester ist nur noch ein Teil des kreativen Denkens. Es gibt aber auch in dieser Generation große Unterschiede: Nils Frahm, Ludovico Einaudi oder ich machen sehr verschiedene Musik.
Welches Potential hat die Klassik, die auch Elemente des Pops aufweist, musikalisch aber auch aus Vermarktersicht?
Die Darstellung und Vermittlung zum Publikum funktioniert wieder stärker über die Person des Komponisten. Dirigenten und Solisten rücken in die zweite Reihe. So kann musikalisch eine klarere, gegenwartsrelevante Sprache entstehen, die sich nicht nur mit sich beschäftigt, sondern Kontakt zum direkten, sozialen Umfeld sucht. Ein altes Künstlerbild wird wieder lebendig, dass es bis in das 18. Jahrhundert hinein gab. Klassische Musik wurde lange mit Zweck und Anlass geschrieben. Das ging für eine Zeit im akademischen Kompositionsparadigma unter. Jetzt kann alles nebeneinander existieren und Impulse geben. Eine Öffnung des subventionierten Kulturbetriebes für sämtliche Ausdrucksformen des Genres wäre wünschenswert.
Merkmale der sogenannten Neoklassik ist auch der vermehrte Einbezug von digitalen Klängen. Wie stark verändert die Digitalisierung unserer Gesellschaft auch die klassische Musik, die heute komponiert wird? Oder anders gefragt, sollte die Digitalisierung auf den Schaffensprozess überhaupt Einfluss haben?
Das kommt sehr auf den einzelnen Künstler an. Wenn digitale Klangformung eine Erweiterung des Ausdrucks ist, dann kann das spannende Färbungen in die Komposition bringen. Denn nur darum geht es, wenn Digitalisierung kein Selbstzweck sein soll. Ein umgekehrter Nebeneffekt ist die Einbeziehung von Orchesterklängen in die musikalische Welt von Künstlern, die sich sonst an Orchesterinstrumente nicht wagen würden - digitale Sample-Bibliotheken bieten enorme Möglichkeiten. Aber auch das ist nur eine Bereicherung, wenn Vielfalt ermöglicht wird, die sonst in zu großem Respekt vor der Orchesterkomposition oder der Unzugänglichkeit des Genres verloren ginge.
Welche Rolle spielen Musikvideos auch als ernstzunehmende Einnahmequelle? Welchen Einfluss haben Fanvideos wie Musical.ly? Verändern solche Trends auch die professionellen Musikvideos?
Diese Entwicklung ist bereits seit vielen Jahren im Gange und mit der kürzeren Aufmerksamkeitsspanne in den sozialen Netzwerken auch fast schon wieder erschöpft. Geld lässt sich für Klassik-Künstler im Videomarkt kaum verdienen. Dazu ist die Reichweite von jeglicher Art Klassik nicht hoch genug. Der Trend geht eher zu kurzen Teasern, die Aufmerksamkeit erregen. Verdient wird heute meist auf der Bühne. Hier spielen Videos eine PR-Rolle, um Interesse an Konzerten oder Veröffentlichungen zu wecken.