Im Bereich Coaching und Beratung werden immer mehr digitale Tools und KI-Anwendungen eingesetzt. Welche Potenziale sehen Sie darin grundsätzlich?
Ein großes Potenzial des Einsatzes von KI in der Beratung sehen wir darin, dass sie – in welcher Form auch immer, sofern reflektiert genutzt – eine die menschliche Intelligenz ergänzende Informationsquelle sein kann, um die Entwicklung von Coping-Strategien bzw. die Lösungs- und Entscheidungsfindung zu unterstützen.
Ein Trend scheint der Einsatz von KI-Konversations-Avataren zu werden. Wie sehen Sie das?
Digitale Coaching-Plattformen und Avatare als "Sparringpartner:innen" können auf eine Datenbasis zurückgreifen (notabene von Menschen ins Netz eingespeist), die sich eine Beratungsperson nie aneignen könnte. Grundsätzlich ermutigen wir dazu, technologische Möglichkeiten – sinnvoll und ethisch – zu nutzen. Auf dem Hintergrund eines humanistischen Menschen- und ganzheitlichen Weltbilds sowie unseres Beratungsverständnisses laden wir gleichzeitig dazu ein, über Risiken eines einseitigen Einsatzes, Missbrauchs- und Suchtpotenziale oder die Ablenkung von «existenziellen sozialen Lernprozessen» nachzudenken. Eine Schlüsselfrage, an der man sich orientieren kann: Was dient einer gesunden psychosozialen Entwicklung, einer gelingenden Lebensgestaltung in einer modernen Gesellschaft und einer menschenwürdigen Existenz auf diesem Planeten schlechthin – bzw. was kann eher davon ablenken, den Lernprozess behindern oder gar in die Irre führen?
Auch zur Evaluation der Ergebnisse wird mehr KI-Einsatz erwartet. Welche Potenziale sehen Sie hier?
Wenn zur Evaluation von Beratungs-Ergebnissen mehr KI zum Einsatz kommen soll, tauchen ebenso viele Anschlussfragen wie Antworten auf:
• Wer erwartet, dass bei der Evaluation von Beratungsergebnissen mehr KI zum Einsatz kommen soll? Sind es Beratungskunden, die ihre eigene Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit validieren möchten? Sind es Beratungspersonen oder -unternehmen, die Auswertungen objektivieren und effizienter erstellen möchten? Sind es Tech-Giganten, die mehr und mehr Informationen sammeln und Kontrolle erlangen wollen (ihre Datenbanken substanziell erweitern und Menschen zunehmend von digitalen Lösungen abhängig machen wollen)? Oder ist mit «Erwartung» an dieser Stelle eher «Antizipation» gemeint? Dann würden in unseren Fragen wiederum die Möglichkeiten, Chancen und Risiken stecken, die damit verbunden sein könnten.
• Wie könnte die Evaluation von Beratungsergebnissen durch KI uns helfen, unsere eigene Wahrnehmungs-und Urteilsfähigkeit zu verfeinern? – Das wäre ein positiver Effekt, den wir uns auf dem Hintergrund des Beratungs- und Entwicklungsverständnisses des BSO vorstellen könnten.
• Dass die Zusammenstellung von Fragebögen von KI generiert und Ergebnisse in Sekundenschnelle in einem Executive Summary verfasst werden (anstatt von Arbeits- und Organisationspsycholog: innen oder Unternehmensberater:innen auf arbeits- und zeitaufwändige sowie kostspielige Weise), betrachten wir als Teil einer Realität, auf die wir uns - besser schon heute als erst morgen - einstellen sollten: Menschliche Arbeitskraft wird wohl über kurz oder lang überall ersetzt werden, wo KI es besser und schneller kann.
• Um Ergebnisse zu interpretieren und kontextgerecht in einen Entwicklungsprozess überzuführen sowie diesen professionell zu gestalten und zu begleiten, wird es unserer Meinung nach immer Menschen - sprich umsichtige, kompetente Beratungspersonen - brauchen. So gesehen, können wir auch darin eine Chance erkennen, dass der Aufwand für die Erfassung und Analyse von Daten reduziert werden kann und demzufolge mehr Ressourcen (Zeit, Aufmerksamkeit, Kompetenzen, Geld) für die kreative Arbeit im direkten Kontakt mit Menschen zur Verfügung stehen. Das wäre unseres Erachtens eine durchaus wünschenswerte Entwicklung.
Es gibt aber auch Befürchtungen, KI könnte in ganzen Bereichen Coaching und Beratung ersetzen. Wie sind Ihre Erwartungen diesbezüglich?
KI zeigt bei einfachen Beratungsfragen ansprechende Ergebnisse. Sobald jedoch Problemstellungen komplexer werden und Lösungen in einen spezifischen Kontext eingebettet werden müssen, bleiben menschliche Fähigkeiten, z. B. über ein eigenes Bewusstsein zu verfügen, unabdingbar. So blicken wir der schrittweisen Entlastung des Menschen von (insbes. «sinnentleerten») Arbeiten, die Maschinen besser können, mutig entgegen. Wir stellen uns der Aufgabe, uns auf das Potenzial von Innovationen bzw. auf einen sachlich und ethisch sinnvollen Umgang damit zu konzentrieren. Dabei würden Hypothesen durchaus in unser Menschenbild passen, dass brachliegendes Potenzial freigesetzt werden könnte für die menschliche Entwicklung auf anderen Ebenen. Beispielsweise, dass die Entfaltung psychosozialer Kompetenzen als (gesunde) Gegen- bzw. Parallelbewegung zu technischen Entwicklungen noch dringender gefordert und ebenso beschleunigt werden könnte. Im weitesten und positivsten Sinne kann dies sogar - wenn auf den ersten Blick auch etwas paradox anmutend - zu «mehr Menschlichkeit» führen. Zum Beispiel durch niederschwelliges, selbstgesteuertes, reflektiertes Erfahrungslernen; Inspiration durch «kollektives Wissen»; ganzheitlicheres Selbstmanagement; oder in einem Begriff ausgedrückt: Bewusstseinsentwicklung. Was in der Folge das Potenzial birgt, weitere positive - kollektive - Entwicklungen zu beschleunigen, z. B. in Umweltfragen, geopolitischen Herausforderungen oder ganz allgemein humanistischen Bewegungen. Bei einer kürzlichen konkreten Anfrage an ChatGPT, wo seine Grenzen in der Beratung von sozialen Systemen (Menschen, Teams, Organisationen) liegen und worin ein Mensch immer einzigartig, besser, unersetzlich bleiben wird, kamen sowohl «selbstkritische» Antworten als auch für reale Beratungspersonen ermutigende Bestätigungen: namentlich, auf welche menschlichen Kompetenzen und beraterischen Qualitäten wir uns konzentrieren können. Beispielsweise das unmittelbare Erleben sozialer Situationen, die kreative Mitgestaltung gemeinsamer Vorhaben, spontane, intuitive Interaktion sowie die Begleitung sozialer Entwicklungsprozesse über längere Zeit.
Unser Fazit: Vor dem Hintergrund eines humanistischen Menschenbilds lässt sich eine grundsätzliche Grenze zwischen Potenzialen und Risiken von KI – wie auch von anderen Hilfsmitteln – entlang der Frage ziehen, wer "Herr im Hause" ist, bleibt oder wird. Dem Beratungsverständnis des BSO liegen Werte wie "Befähigung und Ermächtigung", "Mündigkeit und Verantwortung" sowie "Selbstwirksamkeit und Unabhängigkeit" zugrunde. Deshalb ist für uns als Verband im Umgang mit KI wie in allen Grundsatzfragen das Ethos von Beratung entscheidend – ob durch Mensch oder Maschine angeboten, mit welchen Methoden und Tools auch immer: Werden Menschen eher verführt, in eine "komfortable Konsumationshaltung", "naive Unmündigkeit", "leichte Manipulierbarkeit" oder "gefährliche Abhängigkeit" zu verfallen? Oder werden sie dabei unterstützt - so die Ambitionen des BSO - zunehmend kompetenter und sicherer im "Driver Seat" ihres eigenen Lern- bzw. Entwicklungsprozesses und einer verantwortungsbewussten Lebensgestaltung unterwegs zu sein?
Ein zusammenfassendes Statement des BSO "Haltung zum Trend KI in der Beratung" finden Sie auf der Seite des BSO: https://blog.bso.ch/haltung-bso-zum-trend-ki-in-der-beratung/