Kindergesundheit ist nach Artikel 24 der EU-Kinderrechtskonvention ein Kinderrecht. Wie weit wird dieses Kinderrecht derzeit in Deutschland von der Politik, Verwaltung und Justiz sowie im ganz normalen „Praxisalltag“ wirklich umgesetzt?
Kinder und Jugendliche in Deutschland haben heute insgesamt sehr gute Gesundheitschancen. Allerdings wird noch immer jeden Tag gegen die vom Deutschen Bundestag ratifizierte Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verstoßen. Denn vielen jungen Menschen bleibt das dort verbriefte Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit aufgrund vermeidbarer struktureller Defizite verwehrt. Auch die dort vorgeschriebene Berücksichtigung der Priorität des Kindeswohls bei allen staatlichen Entscheidungen wird regelmäßig missachtet. Aktuell sehen wir im Winter 2022/23 überdeutlich, dass der über Jahre durch Unterfinanzierung bewirkte Kapazitätsabbau in der stationären und ambulanten kindermedizinischen Versorgung zu einem prekären Notstand führt. Es gibt zu wenige Krankenhaus- und auch Intensivbetten für Kinder, und es gibt zu wenig qualifiziertes Personal um Kinder ambulant und stationär gut und kindgerecht betreuen zu können, was zu vermeidbaren Schädigungen führt. Aber auch in anderen Bereichen gibt es unerträgliche Defizite. Im Kindergesundheitsbericht 2022 der Stiftung Kindergesundheit haben wir u.a. auf die unzureichenden Angebote zum Schutz der mentalen Gesundheit, auf die unakzeptable sozio-ökonomische Ungleichheit der kindlichen Gesundheit, auf die Schwierigkeiten bei der Versorgung geflüchteter Kinder und Jugendliche in Deutschland, und auf die Herausforderungen der Klimakrise für die Gesundheit junger Menschen hingewiesen.
In welchen Bereichen der kindgerechten Medizin gibt es derzeit noch eine ganz besonders große Lücke und was muss getan werden, um diese schnellstmöglich zu schließen?
Die dramatischen Engpässe in Kinderkliniken und kinderärztlichen Praxen müssen schnellstmöglich entschärft werden. Wir hoffen sehr darauf, dass die angekündigten Erstmaßnahmen der Bundesregierung zum Ausgleich der Unterfinanzierung der Kinderkliniken durch das bisherige Fallpauschalensystem schnell greifen. Aber wir brauchen auch ein längerfristig tragfähiges Konzept für eine bessere Strukturierung der Versorgung, das Qualität und Finanzierbarkeit sichert. Und dringend brauchen wir wirksame Konzepte zur Bekämpfung des bestehenden und sich noch verschärfenden Personalmangels, u.a. mit einer viel höheren Zahl von ausgebildeten Pflegefachkräften und Ärzt:Innen in Kinder- und Jugendmedizin und Kinderpsychiatrie. Nur dann werden wir eine qualitativ hochwertige und kindgerechte Medizin erhalten können, für die es Zuwendung und Zeit der Betreuenden braucht.
Wie können insbesondere digitale Tools und zukunftsweisende Innovationen eine bessere Kindergesundheit befördern und gibt es hierbei bereits wegweisende Beispiele?
In der Pandemie hat die Telemedizin einen enormen Schub erfahren, der uns weiterhin hilft. Viele Kinderkliniken und Kinder- und Jugendärzt:Innen bieten heute Beratungen und Sprechstunden über Videotelefonie an. Besonders gut funktioniert das natürlich, wenn Ärzt:Innen und Patient:Innen sich schon gut kennen. Gerade für chronisch kranke Kinder- und Jugendliche, die auf regelmäßige Beratung und Betreuung angewiesen sind, aber u. U einen langen Weg zur Spezialambulanz auf sich nehmen müssen, ist dies eine enorme Erleichterung und Verbesserung. Auch ist es heute selbstverständlich geworden, dass Eltern Handy-Fotos zum Beispiel von Hauterscheinungen oder von verändertem Stuhlgang in der Windel in die Sprechstunde mitbringen oder auch per E-Mail senden, was die ärztliche Beurteilung sehr erleichtern kann. Immer mehr entwickelt werden Online-Systeme oder Apps, mit denen chronisch kranken Kinder und Jugendliche regelmäßig ihre Beschwerden und den Krankheitsverlauf dokumentieren, womit eine viel stärker dem individuellen Bedarf entsprechende Anpassung der Therapiemaßnahmen und -intensität möglich wird. Noch stärker als bisher müssen wir Kinder und Jugendliche als eigene Zielgruppe digitaler Innovationen in den Fokus nehmen. Technologien für Erwachsene einfach für Kinder einzusetzen wird oftmals den besonderen Bedürfnissen Heranwachsender nicht gerecht. Auch für Schulung und Training ergeben sich große Chancen. So entwickelt die Stiftung Kindergesundheit derzeit digitale Formate zum Beispiel zur Information von Eltern zum Stillen und zur Verhaltensschulung für übergewichtige Kinder und Jugendliche. Ein Riesenerfolg war unsere Online-Schulung „Kinder Gesund Betreut“, an der mehr als 16.000 Erzieher:Innen und Tagespflegepersonen teilnahmen, um ihre Kompetenz zur Gesundheitsförderung in der Kindertagesbetreuung zu verbessern. Mit der Child and Family Health Academy – LMU Medicine bieten wir online-Fortbildungskurse für Angehörige der Gesundheitsberufe rund um den Globus, mit insgesamt mehr als 100.000 Teilnehmer:Innen. Ich freue mich auf die weiteren Entwicklungen in den kommenden Jahren und auf die großen Chancen, die interaktive digitale Formate bieten.
Sie sind mit Ihrer Stiftung Kindergesundheit in diesem Jahr Schirmherrin für den Sonderpreis #DigitaleKindergesundheit des Digitalen Gesundheitspreises von Novartis. Was ist für Sie erklärtes Ziel dieses Sonderpreises und wann hätte in Ihren Augen dieser Preis seine Wirkung erreicht?
Über die Ausschreibung des diesjährigen Sonderpreises für digitale Kindergesundheit freuen wir uns wirklich sehr! Dies kann zu einer stärkeren Aufmerksamkeit für die besonderen Bedürfnisse von Kindern im Bereich der digitalen Transformation führen. Kindern und Jugendlichen müssen wir auch in der digitalen Medizin eine eigene Stimme geben und auf diese hören. Wenn der Preis für digitale Kindergesundheit dazu beträgt, digitale Helfer für kind- und jugendgerechte gesundheitliche Betreuung und Gesundheitsförderung bekannter zu machen und die Weiterentwicklung und den Ausbau zu befördern, dann ist das ein großartiger Erfolg.
Das Engagement von Novartis für die Gesundheit von Kindern
Novartis setzt sich für die Entwicklung innovativer Kinderarzneimittel und für eine Verbesserung der Kindergesundheitsversorgung ein. Das Unternehmen will die gesellschaftspolitische Debatte rund um das Thema Kindergesundheitsversorgung anregen und fördert seit Oktober 2019 den Austausch von Akteuren aus den Bereichen Kinderhilfsorganisationen, Pädiatrie und Gesundheitspolitik. Ein Ergebnis dieses Diskurses ist die Entwicklung der Kindergesundheitsagenda, unterzeichnet von vier namhaften Organisationen (Deutsches Kinderhilfswerk, Stiftung Kindergesundheit, Care-for-rare Foundation, Kinderschutzbund). Die Agenda enthält fünf Handlungsempfehlungen für eine bessere Kindergesundheit. Ein weiteres Ergebnis ist der von der Stiftung Kindergesundheit initiierte und u.a. von Novartis unterstützte Kindergesundheitsbericht der dem körperlichen und seelischen Gesundheitszustand von jungen Menschen in Deutschland ein durchwachsenes Zeugnis ausstellt und Chancen für Verbesserung aufzeigt.
Und auch im Rahmen des diesjährigen Digitalen Gesundheitspreises (DGP) legt Novartis einen besonderen Fokus auf das Thema Kindergesundheit: Mit dem Sonderpreis #DigitaleKindergesundheit unter der Schirmherrschaft der Stiftung Kindergesundheit gibt das Unternehmen Kindern und Jugendlichen in der Medizin eine Stimme und macht sich stark für kind- und jugendgerechte Therapien, digitale Helfer und Versorgungslösungen.
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Berthold Koletzko vertritt die Stiftung Kindergesundheit als Schirmherrin beim DGP und wird den Preisträger auf der Preisverleihung auszeichnen. Interessierte können sich zur virtuellen Preisverleihung hier anmelden: https://virtual.novartis.com/de/events/dgp-2023