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Interview

„Technologieneutralität kein unantastbares Dogma”

EU-Medienkommissarin Viviane Reding Quelle: 30.04.2007

Meinungsbarometer: Frau Reding, wie zufrieden sind Sie mit dem Tempo der Digitalisierung des Rundfunks in Europa?

Viviane Reding: Die Europäische Kommission ist der Auffassung, dass der Übergang zum digitalen Fernsehen bis spätestens 2012 vollzogen sein soll, und hat es den Mitgliedstaaten dringend ans Herz gelegt, diesen Endtermin einzuhalten. Auch der Europäische Rat - also die Staats- und Regierungschefs aller EU-Mitgliedstaaten und der Präsident der Europäischen Kommission - und ebenso das Europäische Parlament haben diese Terminfestlegung unterstützt.
Insgesamt sieht es ganz danach aus, als ob der vollständige Übergang zum digitalen Fernsehen bereits Ende 2010 in den meisten EU-Staaten vollzogen sein wird. Die Niederlande und Luxemburg haben die analoge terrestrische Fernsehübertragung bereits vollständig eingestellt. Finnland und Schweden werden noch in diesem Jahr folgen. In großen Teilen Deutschlands hat die Abschaltung ebenfalls bereits stattgefunden.
Meine "Sorgenkinder" sind Bulgarien, Litauen und Polen, die noch planen, das analoge Fernsehen später als 2012 abzuschalten. Hier wird man sicherlich den ökonomischen und strukturellen Besonderheiten dieser Länder Rechnung tragen müssen, doch ehrgeizigere Ziele sind auch hier denkbar. Irland und Portugal haben noch nicht über ein Abschaltdatum entschieden, aber es wird intensiv daran gearbeitet, dass der "switch off" 2010/2011 stattfinden kann. Insgesamt kann man aber sicherlich sagen, dass Europa - auch dank des kontinuierlichen sanften Drucks der EU-Institutionen - bei der Digitalisierung auf sehr gutem Wege ist.

Wo sehen Sie Deutschland im europäischen Digitalisierungsprozess?

Deutschland ist gegenwärtig im oberen Mittelfeld der 27 EU-Mitgliedstaaten anzusiedeln. In 30% der deutschen Haushalte wird Fernsehen heute digital empfangen. Dabei sind die wichtigsten TV-Übertragungswege Kabel (55% aller Haushalte) und Satellit (40% aller Haushalte). Terrestrisches analoges Fernsehen hat in Deutschland faktisch aufgehört als alternative Zugangsplattform zu existieren, während digitales terrestrisches Fernsehen (DVB-T) noch nicht die kritische Masse erreicht hat (derzeit etwa 3% aller Haushalte).

Mit Ihrer Ankündigung, DVB-H als künftigen europäischen Standard für Handy-TV notfalls anzuordnen, falls sich die Technologen nicht einigen, haben Sie nicht nur in Deutschland für Aufregung gesorgt. Wie lässt sich Ihre angedrohte Anordnung mit dem Gebot der Technologieneutralität vereinbaren?

Die Einführung des Mobilen Fernsehens in Europa wird nur dann ein Erfolg sein, wenn Europas Unternehmen - insbesondere die im weltweiten Wettbewerb stehenden Gerätehersteller - dabei von Skaleneffekten profitieren können. Sicherlich ist es mir am liebsten, wenn der Markt von selbst einen leistungsfähigen offenen Standard hervorbringt. Allerdings ist für mich Technologieneutralität kein unantastbares Dogma. Wenn deutliche Anzeichen bestehen, dass ein bestimmter offener Standard für die Entwicklung eines wettbewerbsfähigen und verbraucherorientierten Handy-TV in Europa die beste Lösung darstellt, dann werde ich nicht abwarten, bis sich auch die letzte Landesmedienanstalt dazu durchgerungen hat, diesen Standard zu unterstützen. Dann bin ich bereit, mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln nachzuhelfen. Ich prüfe derzeit die Situation in allen EU-Staaten und werde noch im Sommer meine Entscheidung bekannt geben. Letzte Woche habe ich mir die Marktsituation in Japan und Südkorea vor Ort angesehen und dabei sehr deutlich gesehen, dass sich die europäische Industrie keineswegs verstecken muss. Meine Präferenz für DVB-H kommt dabei nicht von ungefähr: Die DVB-Familie hat aufgrund ihrer Offenheit und ihrer weiten Verbreitung weltweit Anerkennung gefunden, und sicherlich nicht zufällig stellt DVB-H bereits in 15 EU-Staaten die präferierte Lösung dar.

Bei DVB-T haben Sie 2005 die deutsche Förderpolitik gerügt. Sie haben der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) vorgeworfen, gegen den Grundsatz der Technologieneutralität verstoßen zu haben. Sehen Sie diese Entscheidung heute anders?

Hier vergleichen Sie Äpfel mit Birnen. Im Fall MABB ging es um die Frage, inwieweit die staatliche Subventionierung des Übergangs zum digitalen Fernsehen aus dem Blickwinkel des EU-Beihilfenrechts gerechtfertigt ist. Die EU-Kommission hat dabei grundsätzlich grünes Licht für eine begrenzte staatliche Finanzierung gegeben, soweit dabei staatliche Fördergelder allen Übertragungswegen - Satellit, Kabel, Terrestrik - zugute kommen. Dies betrifft insbesondere Kosten für Tests, für innovative digitale Dienstleistungen und Pilotprojekte sowie Kosten für Subventionen an Verbraucher für den Kauf von digitalen Dekodern. Ebenso könnten zusätzliche Übertragungskosten der Rundfunkveranstalter, die übergangsweise analoges und digitales Fernsehen parallel senden, für einen begrenzten Zeitraum subventioniert werden. Diese Leitlinien der EU-Kommission gelten bis heute und sind in anderen EU-Staaten - z. Bsp. in Österreich - erfolgreich angewendet worden. In europäischen Standardisierungsfragen geht es dagegen um eine anders gelagerte Konstellation. Die Frage ist hier, auf welcher Grundlage sich ein europaweiter Markt entwickeln soll. Hier kann es das Interesse an Rechtssicherheit, aber auch die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten europäischen Industrie rechtfertigen, nach einer Bewertung der Marktsituation in der gesamten EU eine EU-weit geltende Entscheidung zugunsten eines offenen Standards zu treffen. Das Beispiel des GSM-Standards zeigt hierbei, dass die EU bereits in der Vergangenheit eine sehr wichtige Standardisierungsfrage in diesem Sinne entschieden hat. Ob wir eine solche Entscheidung jetzt auch beim Handy-TV treffen müssen, wird die EU-Kommission im Juli beschließen. Ich erwarte mir bis dahin erhebliche Fortschritte beim Handy-TV gerade in Deutschland.

Werden Sie auch beim digitalen Hörfunk ein Machtwort sprechen, um den Prozess zu beschleunigen?

Ihre Frage geht von einer falschen Voraussetzung aus: Der von der EU gesetzte Endtermin 2012 gilt für das Abschalten der analogen Fernsehübertragung, nicht dagegen für analoges Radio. Dies aus gutem Grund, denn die technischen und die Marktbedingungen für Radio unterscheiden sich erheblich vom Fernsehen.
Vom Übergang zum digitalen Fernsehen und der Abschaltung der analogen TV-Übertragung bis 2012 erhoffen wir uns in Europa vor allem eine effizientere Frequenznutzung, damit die dadurch frei werdende "digitale Dividende" Wirtschaft und Gesellschaft in Form von neuen, innovativen Diensten, mehr Wettbewerb und mehr Auswahl zukommen kann. Im Gegensatz zu terrestrischem Fernsehen würde das Umschalten von terrestrischer analoger zu digitaler Radioübertragung auf Grundlage der gegenwärtig verwendeten Normen (wie zum Beispiel DAB) dagegen keine merkliche Zunahme der Effizienz der Frequenznutzung ermöglichen. Die Sachlage beim Radio ist also derzeit eine völlig andere und lässt sich nicht mit dem Handlungsbedarf beim mobilen Fernsehen vergleichen.

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