Rock-Musiker, DJs, Kleinkünstler, klassische Orchester, Schriftsteller – immer mehr Künstler setzen in der aktuellen Krisen-Situation auf das Streaming ihrer Events im Internet. Welche Vorteile bringen solche Angebote aus Ihrer Sicht für die Künstler und Häuser?
Meiner Meinung nach beschleunigt die vermehrte Nutzung von Streaming in der aktuellen Situation zwei Prozesse, welche in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen haben: Zuerst die Verbreiterung des kulturellen Angebots. Darunter fasse ich die Möglichkeiten auf, als Autor, Theaterensemble, Orchester, etc. nicht mehr dem Zwang unterlegen zu sein, auf Tournee oder Lesereise gehen zu müssen. Mit Aufzeichnung und Bereitstellung der eigenen künstlerischen Beiträge wird der modernen Anforderung an Künstler, mobil zu sein, entgegengewirkt. Weiterhin wird die Möglichkeit erleichtert, ein Zielpublikum außerhalb der kulturellen Zentren anzusprechen und gegebenenfalls neue Interessengruppen zu finden.
Da ein digitales Angebot auch einen starken Wettbewerbscharakter nach sich zieht, werden Künstler vermehrt Kostproben ihrer Arbeit (Bildergalerien, Ausschnitte aus Aufführungen, Buchexzerpte) bereitstellen müssen. Dies dient der Legitimation vor Rezipienten und hilft, sich an die Beiträge zu erinnern und sie im Netz zu archivieren, vergleichbar mit den Mediathek-Angeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dies ist der zweite Prozess, die digitale Archivierung künstlerischer Werke.
Derzeit setzen viele Streams auf die Finanzierung durch Spenden – inwieweit kann das einen Beitrag zur Finanzierung von Kultur leisten?
Spenden allein können keine Kulturform – sei sie analog oder digital präsentiert – dauerhaft stützen. Durch die Ungewissheit, wann in welcher Höhe gespendet wird, lassen sich keine Gewerbe mit gesicherten Arbeitsplätzen bzw. keine freischaffenden Künstler ohne Finanzierungsdruck halten. Private Spender könnten aufgrund subjektiver Empfindungen oder Motive die Kulturlandschaft nachhaltig beschädigen, falls sich ihre Spende ausschlaggebend für die betroffenen Künstler oder Institutionen erweist. Diese einseitige Abhängigkeit muss analog wie digital verhindert werden, indem neben freiwilligen (und ab einer gewissen Höhe auch transparenten) Spenden, Gegenfinanzierungen anderer Art erfolgen.
Mit welchen anderen Finanzierungsmodellen können Streams vielleicht auch dauerhaft einen Produktionskostenbeitrag zu kulturellen Angeboten leisten?
In erster Linie sollte der Staat in einer Verteilungs- und Steuerungsfunktion agieren. Wir reden über den Zugang von Kunst- und Kultur, nicht selten auch mit bildungspolitischem Anspruch. Hier ist der Staat meiner Meinung nach verpflichtet, eine digitale Grundversorgung analog zu seinem Bildungsauftrag bzw. seiner Informationspflicht zu gewährleisten. Dazu müssen der Kulturetat angehoben sowie Fördermöglichkeiten für Präsenz- wie für abrufbare Kulturleistung erweitert und ihr Zugang für Kunstschaffende, Vereine etc. erleichtert werden.
Zuletzt eine Prognose: Welche Teile der derzeit entstehenden Streaming-Kultur können auch nach der Krise noch relevant sein?
Die von mir erwähnte Angebotsverbreiterung und die Archivierung kultureller Beiträge werden, unabhängig vom Ausgang der aktuellen Situation, nicht an Bedeutung verlieren. Um die Digitalisierung des Kunstangebotes aber nachhaltig und chancengleich für Kunstschaffende aller Gesellschaftsgruppen zu gestalten, brauchen wir weitere Fortschritte im digitalen Raum. Immer noch muss über Verwertungs- und Urheberrechte diskutiert werden; immer noch bedarf es einer moralisch-ethischen Wertedefinition im digitalen Raum. Kunst- und Kultur haben zwar den Weg ins Netz gefunden – finden ihre Rezipienten aber zu ihnen? Wie stellt sich Kunstfreiheit und Jugendschutz digital dar?
Die derzeitige Situation ist nicht nur für Selbstständige heikel. Sie offenbart uns strukturelle Mängel in unterschiedlichen, dennoch innig miteinander verflochtenen Bereichen. Die Digitalisierung kann dabei höchstens eine Ergänzung unseres bisherigen Handlungs- und Aktionsspielraumes sein. Die virtuelle Abbildung von z.B. Exponaten ersetzt nicht die plastisch-mystische Erfahrung, die man bei der Besichtigung von Museen oder historischen Bauwerken erfahren kann. Ebenso wenig wird die Personalunion des Künstlers durch eine digitale Transformation an Komplexität verlieren. Wir verschieben hier Verantwortungsbereiche und Arbeitsfelder – viele Künstler sind damit auch überfordert bzw. in ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten eingeschränkt.
Der Einzug in die virtuelle Welt ist kein Evolutionssprung, sondern ein sich stark ausprägender, wichtiger Seitenarm unser Kunstdarstellung und –rezeption. Unterstützen wir in diesem Bewusstsein unsere freien Künstler, werden auch neue Formen kultureller Aktivität und Teilhabe, wie z.B. das Streaming, einen erheblichen und stabilen Mehrwert erfahren.
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