Menue-Button
← FACHDEBATTE Interview

Mit Teilen, Tauschen, Kombinieren die Dörfer retten

Forscher plädiert für interdisziplinäre Lösungsansätze bei der künftigen Mobilität auf dem Land

Dr. Dirk Wittowsky, Leiter der Forschungsgruppe Alltagsmobilität und Verkehrssysteme am ILS - Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung Quelle: ILS Alexander Hiller Redakteur Meinungsbarometer.info 27.04.2017

Teilen, Tauschen, Kombinieren, so könnte das Motto für den Verkehr von morgen auf dem Land aussehen, glaubt Dr. Dirk Wittowsky, Leiter der Forschungsgruppe Alltagsmobilität und Verkehrssysteme am ILS - Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung. "Auf dem Land müssen die Menschen nicht ein eigenes Auto haben um mobil zu sein. Vielmehr haben sie eine Vielzahl an Optionen beweglich zu sein." Lösungsansätze dafür sollten in guter regionaler Zusammenarbeit interdisziplinär entwickelt werden.







Wie steht es derzeit um die Mobilität im ländlichen Raum, gerade im Hinblick auf viele wegfallende ÖPNV-Angebote?
Zunächst beschreibt die Kategorisierung ländlicher Raum nur annäherungsweise die tatsächlichen räumlichen Verhältnisse, da der Übergang zwischen Agglomerationsräumen, städtischen Räumen und dem ländlichen Raum zum Teil fließend ist. Aufgrund der Raumstruktur und der Erreichbarkeitsverhältnisse liegen jedoch für die Alltagsmobilität der Bevölkerung besondere Bedingungen vor. Die Entfernungen zu zentralen Infrastruktureinrichtungen der Daseinsversorge sowie Schulen und Arbeitsplätze sind oft groß und es gibt nur eingeschränkte Mobilitätsoptionen abseits des privaten Autos – besonders in Randzeiten und am Wochenende sind kaum attraktive Angebote vorhanden. Daher wird heute ein maßgeblicher Anteil der Mobilität mit dem eigenen Auto durchgeführt bzw. das eigene Mobilitätsportfolio rund um das Auto aufgebaut. Menschen ohne Zugang zum Auto, sowohl junge als auch alte Menschen, arrangieren ihre Mobilität flexibel durch privates Mitfahren und Nachbarschafts-Sharing als Ko-Mobilität zum klassischen ÖPNV. Allerdings verringert der Bevölkerungsrückgang in weiten Teilen des ländlichen Raumes die Tragfähigkeit von Infrastrukturleistungen und des ÖPNV, so dass in Zukunft weit weniger Alternativen zur Verfügung stehen werden – auch weil das Auto das Universalverkehrsmittel schlecht hin ist. Darüber hinaus ist die Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse aller Bevölkerungsgruppen eine wichtige Voraussetzung zur gesellschaftlichen Teilhabe und für die Lebensqualität in ländlichen Räumen, die aber auch mit eingeschränkten öffentlichen Verkehrssystemen durchaus gegeben sein kann. Technisch und organisatorisch existieren eine Reihe innovativer Mobilitätsangebote – auch auf dem Land, die als Mikrokonzepte oder living lab umgesetzt sind. Neben tragfähigen Betriebs- und Geschäftsmodellen fehlen vor allem regionale langfristige Mobilitätsstrategien, um bestehende Strukturen, Organisationsformen und Denkweisen zu verändern.

Wie könnten neue Mobilitätskonzepte im ländlichen Raum aussehen, damit ländliche Regionen nicht gegenüber den Städten abgehängt werden?
Um positive Impulse für ländliche Mobilitätskonzepte zu setzen, sind innovative und kreative Lösungen sowie Pioniere für die Transformation der Systeme gefragt. Zudem muss die Lebensqualität auf dem Land verstärkt als positiver Aspekt herausgestellt und gesichert werden. Die zentrale Aufgabe besteht darin, bewährte Lösungen und Strukturen stimmig konzeptionell mit neuen Mobilitätsangeboten in ein regionales Mobilitätskonzept zu integrieren. Der Blick richtet sich auch auf die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen sowie auf organisatorische wie rechtliche Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Transformation des ländlichen Verkehrssystems. Eine räumliche Differenzierung ist dabei zwingend erforderlich, da raumspezifischen Bedingungen sowohl auf regionaler als auch auf lokaler Ebene heterogen sind und somit allgemeingültige Konzeptlösungen nur in ihren Grundphilosophien verankert werden können. Ein wesentlicher Aspekt bei der Entwicklung von Mobilitätskonzepten ist die Einbeziehung regionaler bzw. lokaler Akteure mit einem übergreifenden planerischen Verständnis.

Das Auto wird auch in naher Zukunft eine wichtige Rolle spielen, daher ist die Transformation zu „sauberen“ Antriebsformen zwingend notwendig. Im Mittelpunkt steht aber ein offenes Mobilitätsportfolio mit intelligent vernetzten Bausteinen der öffentlichen kollektiven Mobilität (ÖPNV-Kernangebot mit nachfragegesteuerten Bedienformen), der öffentlichen individuellen Mobilität (Mischformen zwischen ÖPNV und dem IV sowie Sharing-Systeme und Rideselling-Angeboten), der kollektiven individuellen Mobilität (privates Mitnehmen und Sharing) sowie der privaten individuellen Mobilität (zu Fuß, Rad, E-Bike/E-Scooter und Auto). Somit werden die Grenzen der Mobilitätsformen sich weiter vermischen und die Koordinierung neuer und „alteingesessener“ Anbieter sowie Kümmerer für kleinräumige Mobilitätsangebote müssen in die Region installiert werden. Darüber hinaus ist die technische Integration von Mobilitätsangeboten von grundlegender Bedeutung bzw. als Voraussetzung zu sehen, als damit die Schnittstellen zwischen Angebot und Nachfrage geschaffen werden. Mobilitätsangebote müssen aber nicht nur vermittelt, sondern auch vermarktet werden. Vor allem durch dynamische Informations- und Kommunikationstechnologien entstehen neue Mobilitäts- und Wahlmöglichkeiten, die das Mobilitätsverhalten und das Raum- und Zeitmuster vielfältig beeinflussen, sodass traditionelle Mobilitätsdienstleister reagieren und innovative Mobilitätsangebote installiert werden müssen.

Welche Möglichkeiten bieten integrierte Mobilitätskonzepte auf dem Land? Welche Chancen bietet ggf. der autonome on demand-Verkehr?
Um auch zukünftig ein nachhaltiges, funktionierendes Mobilitätssystem zu gewährleisten, das die Erreichbarkeit der Standorte der Daseinsvorsorge in angemessener Weise garantiert, wird die integrierte Raum- und Mobilitätsplanung ein Schlüsselfaktor sein. Um die Mobilität für alle Menschen in nachfrageschwachen ländlichen Regionen unabhängig von Einkommen und Alter auch in Zukunft nachhaltig zu gestalten und zu gewährleisten, müssen integrierte und innovative Mobilitätskonzepte unter Einbeziehung aller Verkehrsmittel und -träger entwickelt werden. Diese beinhalten auch soziale und technische Innovationen, um das Mobilitätsverhalten zu verändern und langfristig die Mobilitätskultur nachhaltig zu beeinflussen. Eine ressourceneffiziente Gestaltung individueller und öffentlicher Systeme kann nur durch die abgestimmte Verknüpfung unterschiedlicher Organisationsformen erfolgen, die nicht an Raum- bzw. Verwaltungs- und Systemgrenzen enden. Integrierte Mobilitätskonzepte aus einem Guss und transaktionskostenarm kompensieren die Schwächen einzelner Mobilitätsangebote durch Vernetzung und Komplementarität. Neue Mobilitätsformen zu erfahren und zu erlernen sind aber auch Prozesse, die erst in das Bewusstsein verankert werden müssen. Durch Reallabore müssen weiter positive Impulse für die ländliche Mobilität gesetzt werden - auch hier können nachhaltige Vorzeigekommunen entstehen. Der Verkehr in ländlichen Räumen muss auch anderen Anforderungen gerecht werden als in verstädterten- und Agglomerationsräumen, hier werden sich ungleiche Entwicklungspfade aufspannen. Hier darf die Ideologische Perspektive genauso wenig den Blick verstellen wie reines Wunschdenken.

Durch die Automatisierung erfolgt eine Auflösung von Systemgrenzen, so dass demand-Verkehre Chancen für neue Mobilitätsdienste bilden. Vor allem ist eine betriebswirtschaftliche Effizienzsteigerung zu erwarten und für dünn besiedelte Gebiete steigt die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe und damit auch die Attraktivität. Das Potential durch den Einsatz automatisierter Fahrzeuge sehe ich in zusätzlichen (kostengünstige und flexible) Zubringer-Systemen und Shuttle-Diensten, die den ÖPNV abseits des Kernnetzes ergänzen. Aber auch autonome Lieferdienste und car-sharing Angebote werden weiter an Bedeutung gewinnen. Jedoch existieren im Moment weiter viele offene Fragen über unerwünschte Effekte, rechtliche Frage sowie der Akzeptanz der Nutzer.

Wie sieht Ihre persönliche Zukunftsvision von der Mobilität im ländlichen Raum aus und was gehört alles dazu?
Ländliche Räume sind auf Impulse zur Entwicklung von effizienten und ressourcenschonenden Mobilitätskonzepten angewiesen. Die Autodominanz soll perspektivisch verringert werden und die Mobilitätskultur sich verändern. Auf dem Land müssen die Menschen nicht ein eigenes Auto haben um mobil zu sein. Vielmehr haben sie eine Vielzahl an Optionen beweglich zu sein – Teilen, Tauschen, Kombinieren. Lösungsansätze werden so in guter regionaler Zusammenarbeit interdisziplinär entwickelt. Flexible Angebote organisieren sich nach dem hub-and-spoke-Prinzip und Mobilitätsstationen als intermodale Schnittstelle werden als Erlebnisraum und Ort der Kommunikation wahrgenommen. So kann Verkehr reduziert und Mobilität erhöht werden. Die Bedürfnisse der Menschen werden beachtet und in Konzepte überführt, die nicht nur von der Technikseite angegangen werden. Es gibt einem fairen Umgang zwischen allen Verkehrsträgern und kollektive Mobilität wird zu Selbstverständlichkeit.

UNSER NEWSLETTER

Newsletter bestellen JETZT BESTELLEN

■■■ WEITERE BEITRÄGE DIESER FACHDEBATTE

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Prof. Dr. Kurt Krambach
Vorsitzender
Netzwerk Lebendige Dörfer

Prof. Dr. Kurt Krambach, Vorsitzender Netzwerk Lebendige Dörfer
Verkehr | Mobilität

Das attraktive Dorf braucht flexible ■ ■ ■

Warum der Verkehr auf dem Land nicht nur ■ ■ ■

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Prof. Dr. Kurt Krambach
Vorsitzender
Netzwerk Lebendige Dörfer

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Udo Folgart
Sprecher
Landtag Brandenburg

Udo Folgart (SPD), Sprecher für den Ländlichen Raum/ Landwirtschaft im Landtag Brandenburg
Verkehr | Mobilität

ÖPNV nur ein Teil der ländlichen Mobilität

Welche Rolle das Auto und neue Technologien ■ ■ ■

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Udo Folgart
Sprecher
Landtag Brandenburg

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Anita Tack
MdL
DIE LINKE. Fraktion im Landtag Brandenburg

Anita Tack, MdL, Sprecherin für Stadtentwicklungs-, Bau-, Wohnungs- und Verkehrspolitik, Stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Infrastruktur und Landesplanung, DIE LINKE. Fraktion im Landtag Brandenburg
Verkehr | Mobilität

Rufbusse und Car-Sharing gegen den ■ ■ ■

Wie Brandenburg seine Mobilitätsprobleme auf dem ■ ■ ■

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Anita Tack
MdL
DIE LINKE. Fraktion im Landtag Brandenburg

ZUR FACHDEBATTE

■■■ DIESE FACHDEBATTEN KÖNNTEN SIE AUCH INTERESSIEREN

Uwe Rempe

INITIATOR
Uwe Rempe
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info

Dipl.- Journ. Thomas Barthel

INITIATOR
Dipl.- Journ. Thomas Barthel
Founder & Herausgeber
Meinungsbarometer.info

Simone Ulrich

INITIATORIN
Simone Ulrich
Freie Journalistin
Meinungsbarometer.info

ÜBER UNSERE FACHDEBATTEN

Meinungsbarometer.info ist die Plattform für Fachdebatten in der digitalen Welt. Unsere Fachdebatten vernetzen Meinungen, Wissen & Köpfe und richten sich an Entscheider auf allen Fach- und Führungsebenen. Unsere Fachdebatten vereinen die hellsten Köpfe, die sich in herausragender Weise mit den drängendsten Fragen unserer Zeit auseinandersetzen.

überparteilich, branchenübergreifend, interdisziplinär

Unsere Fachdebatten fördern Wissensaustausch, Meinungsbildung sowie Entscheidungsfindung in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Gesellschaft. Sie stehen für neue Erkenntnisse aus unterschiedlichen Perspektiven. Mit unseren Fachdebatten wollen wir den respektvollen Austausch von Argumenten auf Augenhöhe ermöglichen - faktenbasiert, in gegenseitiger Wertschätzung und ohne Ausklammerung kontroverser Meinungen.

kompetent, konstruktiv, reichweitenstark

Bei uns debattieren Spitzenpolitiker aus ganz Europa, Führungskräfte der Wirtschaft, namhafte Wissenschaftler, Top-Entscheider der Medienbranche, Vordenker aus allen gesellschaftlichen Bereichen sowie internationale und nationale Fachjournalisten. Wir haben bereits mehr als 600 Fachdebatten mit über 20 Millionen Teilnahmen online abgewickelt.

nachhaltig und budgetschonend

Mit unseren Fachdebatten setzen wir auf Nachhaltigkeit. Unsere Fachdebatten schonen nicht nur Umwelt und Klima, sondern auch das eigene Budget. Sie helfen, aufwendige Veranstaltungen und überflüssige Geschäftsreisen zu reduzieren – und trotzdem die angestrebten Kommunikationsziele zu erreichen.

mehr als nur ein Tweet

Unsere Fachdebatten sind mehr als nur ein flüchtiger Tweet, ein oberflächlicher Post oder ein eifriger Klick auf den Gefällt-mir-Button. Im Zeitalter von X (ehemals Twitter), Facebook & Co. und der zunehmenden Verkürzung, Verkümmerung und Verrohung von Sprache wollen wir ein Zeichen setzen für die Entwicklung einer neuen Debattenkultur im Internet. Wir wollen das gesamte Potential von Sprache nutzen, verständlich und respektvoll miteinander zu kommunizieren.