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Interview

Klassik im Umbruch

Neuer Schwung durch digitale Geschäftsmodelle?

Gerald Mertens, Geschäftsführer/CEO Deutsche Orchestervereinigung e.V. Quelle: Deutsche Orchestervereinigung e.V. Alexander Hiller Redakteur Meinungsbarometer.info 19.06.2015

131 Kulturorchester gibt es derzeit in Deutschland. Noch! Denn einbrechende CD-Verkäufe, geringer werdende staatliche Zuwendungen und ein alterndes Publikum setzen der Branche derzeit heftig zu. Gespannt schaut daher die Klassikwelt auf den bevorstehenden Start der neuen Streamingplattform IDAGIO. Was der maßgebliche deutsche Orchesterverband davon hält, erfahren Sie im Interview mit Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung.







Ist die Klassik im Umbruch und was hat das mit den neuen digitalen Medien zu tun?
Digitale Medien und Verbreitungswege spielen auch für professionelle Orchester und Musiktheater eine immer wichtigere Rolle. Denn diese in Deutschland überwiegend öffentlich geförderten Kultureinrichtungen befinden sich in einer wachsenden Freizeitkonkurrenz zu kommerziellen Anbietern (zum Beispiel Musicals, private Konzertveranstalter), welche ihrerseits digitale Kanäle und Vertriebswege – schon aus Marketinggesichtspunkten – professionell und mit großen Etats bespielen. Das führt zu einem erhöhten Wettbewerb um potenzielle Besuchergruppen, zumindest aber zu einem wachsenden Ungleichgewicht in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung. Das gilt vor allem für mittlere und kleinere Einrichtungen, wie zum Beispiel klassische Stadttheater oder kleinere Orchester. Diese haben kaum nennenswerte (Marketing-)Mittel und zusätzliche personelle und technische Ressourcen, um in größerem Stil digitale Kanäle mit ihren Inhalten zu bestücken. Größere Kultureinrichtungen hingegen, z.B. die Berliner Philharmoniker oder die Bayerische Staatsoper, haben in den letzten Jahren ihre Präsenz in den digitalen Medien massiv und teilweise weltweit führend (vgl. Digital Concerthall der Berliner Philharmoniker) ausgebaut. Ein weiteres Beispiel ist der YouTube Channel des hr-Sinfonieorchesters.

Wenn man so sagen will, befindet sich nicht „die Klassik“ im Umbruch, sondern die Verbreitungswege (damit die potenziellen Reichweiten von Angeboten) und die Angebots- (Konzert-) formate sind vielfältiger geworden.

Noch vor wenigen Jahren hatten viele Dirigenten oder Orchester gut dotierte Plattenverträge. Dieser Markt ist jedoch in den letzten Jahren regelrecht eingebrochen. Viele Häuser haben daher eigene Plattenlabel oder digitale Ausspielplattformen im Internet, wie die Digitale Konzerthalle der Berliner Philharmoniker, entwickelt. Ist das der richtige Weg?
Die Digitale Konzerthalle der Berliner Philharmoniker ist eines (allerdings ein besonders prominentes und finanziell gut ausgestattetes) von mehreren Beispielen, wie Orchester neue Verbreitungswege entwickeln und beschreiten. Das hr-Sinfonieorchester betreibt mit seinen Produktionen seit mehreren Jahren ein erfolgreichen YouTube-Kanal, die Bayerische Staatsoper überträgt in regelmäßigen Abständen Opern im Internet-Livestream. Aus den USA sind vor allem die weltweiten Übertragungen von Opern aus der MET zu nennen, die sich inzwischen zu einer echten, weiteren Einnahmequelle der MET entwickelt haben. Das Detroit Symphony Orchestra hat mit seinen Livestreams „Live from the Orchestra” in den letzten zwei Jahren ebenfalls wachsende Zugriffszahlen zu verzeichnen und jüngst aus den Live-Produktionen des Tschaikowsky- Sinfonien Zyklus eine erste eigene DVD-Kollektion herausgebracht. Dieser Trend wird bei den großen, international aufgestellt Orchestern weiter zunehmen. Wie viel Geld damit am Ende zu verdienen ist, ggf. auch über Werbung und Sponsoring wird man abwarten müssen.

Wie schätzen Sie den Streamingmarkt im Klassik-Sektor grundsätzlich ein: Lassen sich damit neue Zielgruppen gewinnen?
Der Streamingmarkt befindet sich in einer raschen Umwälzung. Man darf gespannt sein, wie sich die neue Klassikplattform IDAGIO ab Sommer 2015 verbreiten und möglichweise in dem Klassiksegment durchsetzen wird. So werden beispielsweise die Wiener Philharmoniker hier mit ihren Livemitschnitten der letzten Jahre dabei sein, neben alten, inzwischen gemeinfreien Aufnahmen aus der frühen Stereo-Zeit. Ob sich über diese, jenseits von Premiumangeboten kostenlose Plattform neue, junge Klassikhörer gewinnen lassen, muss man abwarten. Aber das Geschäftsmodell, welches eine faire Künstlerbeteiligung propagiert, scheint nicht abwegig, um möglichst vielen Menschen einen einfachen, legalen und kostenlosen Zugang zum Kernrepertoire klassischer Musiker zu bieten. Durch entsprechendes Direkt-Marketing, durch Crossmarketing, Nutzung sozialer Medien und Einbindung bereits bestehender Zielgruppen lassen sich auch neue Zielgruppen gewinnen.

Wird das virtuelle Konzerterlebnis irgendwann den Konzertbesuch vor Ort ganz unnötig machen?
Das virtuelle Konzerterlebnis wird den Besuch im Opernhaus und Konzertsaal auf keinen Fall ersetzen. Es kann ihn vorbereiten, begleiten, ergänzen, aber nicht ersetzen.

Mit welchen medialen Ideen und Initiativen wollen Sie Ihre Verbandsmitglieder unterstützen, damit die Klassik eine Zukunft hat? Oder wird ein Orchestersterben unvermeidlich sein?
Hinter jedem Orchester- und Opernbetrieb stehen Menschen mit spannenden Geschichten. Im Backstagebereich, in der Probenarbeit, hinter und unter der Bühne, natürlich auch auf der Bühne, passieren so viele interessante Dinge. Diese Geschichten gilt es, in geeigneter Art und Weise zu erzählen. Dabei sind Blogs, Facebook und YouTube geeignete Kanäle, um diese Geschichten und die dahinter stehenden Botschaften breit zu kommunizieren. Das Problem ist vielfach noch die konzeptionelle und unternehmerische Untersetzung sowie die erforderliche Personal- und Resourcenbereitstellung. Größere Häuser sind hier weiter als kleine.

In den letzten fünf bis zehn Jahren ist die Quantität und die Qualität der Musikvermittlungsangebote der Orchester und Opernhäuser stark gewachsen. Beispielsweise haben sich viele Musikvermittler, Konzert- und Opernhäuser sowie Orchester im „netzwerk junge ohren“ zusammengefunden, um Erfahrungen auszutauschen und Best Practice-Modell zu entwickeln. Die klassische Musik ist nicht tot, sie lebt. Das belegen auch die in vielen Konzerthäusern und bei den meisten Theatern und Orchestern steigenden Besucherzahlen. Wenn es zu weiteren Einschnitten im Orchester- und Theaterbereich in Deutschland kommen sollte, dann nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern allein aus finanziellen beziehungsweise politischen.

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