77 % der deutschen Einzelhändler sehen sich selbst als Nachzügler in Sachen Digitalisierung. Verliert eine ganze Branche den Anschluss?
Die Gefahr besteht in der Tat, allerdings sollte die Aussage dennoch etwas differenziert werden: Dir großen Filialisten holen durchaus auf und haben beim Online-Wachstum letztes Jahr sogar deutlich stärker zugelegt als die reinen Onliner. Sie stehen - inklusive Food - immerhin für rund 75 % der gesamten Einzelhandelsumsätze. Bei den zitierten 77 % handelt es sich überwiegend um kleinere lokale Händler, die nur noch für rund 15 % der Einzelhandelsumsätze in Deutschland stehen, und das mit weiter sinkender Tendenz. Sie sind schon lange nicht mehr „systemrelevant“ und deren gesellschaftliche Bedeutung für Städte und Gemeinden wird vielfach etwas hochstilisiert: Auch für den Innenstadteinkauf sind aus Kundensicht in den meisten Städten die Filialisten der Hauptgrund, nicht die lokalen Händler.
Im Einzelhandel gibt es immer noch viele kleine Unternehmen, online dominieren wenige Konzerne. Wie kommt der Einzelhändler dauerhaft gegen Amazon und Co an?
Das lässt sich so leider nicht sagen, denn eigentlich dominiert online nur Amazon mit mehr als 40 % Marktanteil im Online-Handel inklusive Markplatzhandelsvolumen. Die Nummer 2 – nämlich die Otto Group – kommt mit der Kernmarke Otto auf nur noch rund 5 % bzw. mit allen Tochtergesellschaften zusammen auf vielleicht 10 %. Selbst ein Zalando kommt nicht einmal auf 3 % Marktanteil am Online-Handel. Nehmen wir den stationären LEH zum Vergleich: Die EDEKA Gruppe kommt auf über 30 % Marktanteil, gefolgt von Rewe mit über 20 % Marktanteil. Die Konzentration ist also durchaus vergleichbar. Wie man dauerhaft gegen Amazon und Co ankommt, zeigt am besten die Otto Group, die mittlerweile deutlich stärker als der Online-Markt wächst und dafür – wie Amazon - auf Ergebnis verzichtet.
Viele Verbraucher könne sich vorstellen, automatisiert Alltagsartikel in zu bestellen. Vor welche Herausforderung stellen das Internet der Dinge und das Smart Home den Einzelhandel?
Zwischen der Aussage, sich etwas vorstellen zu können, und der tatsächlichen Tat besteht schon ein großer Unterschied. Seit jeher gibt es eine enorme Diskrepanz zwischen dem bekundeten und dem tatsächlichen Einkaufsverhalten. Dennoch lässt sich sagen, dass das Internet der Dinge und das Smart Home den Einzelhandel vor ähnlich große Herausforderungen stellen wird, wie es der Online-Handel bisher insgesamt getan hat. Im Grunde geht es ja um die weitere Evolution des E-Commerce und da gehört die weitere Automatisierung eben dazu. Das verlangt allerdings ein weitaus größeres Vertrauen der Kunden in die handelnden Anbieter, als sie das bisher an den Tag gelegt haben: Nicht nur der Verzicht auf die geliebten Preisvergleiche sowie auf das Kontrollieren der MHDs, sondern auch das Überlassen von vertraulichen Daten bis hin zum Herausgeben des Zugangscodes sind schon eine völlig andere Nummer.
Andererseits kaufen 4 Prozent der Internetnutzer täglich online, 14 Prozent einmal oder mehrmals pro Woche - wird der Onlinehandel überschätzt?
Die Zahlen decken sich mit den Online-Anteilen am gesamten Einzelhandel, die bei rund 10 % liegen. Das Bild wird jedoch deutlich verzerrt durch Lebensmittel, die bisher kaum Online-Umsätze erzielt haben und auf maximal rund 1 % Online-Anteil kommen. Bei Non-Food sieht die Welt schon völlig anders aus. Hier liegen wir bereits bei ca. 20 % und erste Warengruppen gehen bereits auf die 50 % zu – so wie u. a. Bücher/Medien, Spielwaren und UE. In den nächsten 10 Jahren werden sich die Online-Anteile bei Non-Food auf rund 40 % noch einmal mindestens verdoppeln. Hinzu kommen die hybriden Umsätze, die zwar überwiegen stationär ausgeführt, aber im Internet entschieden werden. Die machen Stand heute rund 10 % aus und werden sich wahrscheinlich auch verdoppeln, so dass in 2026 bei Non Food rund 60 % der Einkäufe webbasiert erfolgen. Gefährlich ist, dass die Abwanderung der Kunden in den Online-Handel in der Regel wie eine Einbahnstraße funktioniert, bei der es dann kein Zurück mehr gibt.