Der EuGH hat eine umfassende Arbeitszeiterfassung vorgeschrieben, um unzulässige Arbeitszeitüberschreitungen von Mitarbeitern zu unterbinden. Wie groß ist das Problem der unzulässigen Mehrarbeit Ihrer Ansicht nach?
Der EuGH verpflichtet die Mitgliedsstaaten, den Arbeitgebern vorzuschreiben, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die Arbeitszeit jedes Arbeitnehmers/jeder Arbeitnehmerin gemessen werden kann. Inwiefern dies als „umfassende Arbeitszeiterfassung“ zu sehen ist, ist wohl Sache der Interpretation.
Natürlich sehen wir Probleme mit unzulässiger Mehrarbeit. Diese steht in Österreich jedoch unter Strafandrohung. In gewissen Branchen wie etwa im Gastgewerbe ist dies durchaus ein bereits lang bestehendes Problem.
Viel mehr als die unzulässige Mehrarbeit sehen wir jedoch die zulässige Mehrarbeit als Problem. Durch die letzte Änderung des Arbeitszeitgesetzes sind seit 1. September 2018 zwölf Stunden am Tag und 60 Stunden in der Woche zulässig. Wir sehen daher viel eher ein Problem in dem, was zulässig möglich ist. Denn gegen die unzulässige Mehrarbeit gibt es Sanktionen.
Einige Experten sehen mit Urteil das Ende der Vertrauensarbeit gekommen. Wie sehen Sie das?
Die österreichische Regelung sieht Erleichterungen der Dokumentation der Arbeitszeit in bestimmten Fällen vor. So muss etwa bei Homeoffice oder weitgehender zeitlicher und örtlicher Autonomie der ArbeitnehmerInnen nur die Summer der täglich geleisteten Arbeitszeit aufgezeichnet werden und nicht deren Lage. Meiner Ansicht nach ist das ausreichend, um die vom EuGH erwähnten Ziele der Einhaltung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit zu gewährleisten. Lediglich betreffend die Dokumentation der Ruhezeit besteht eine Lücke, die wohl zu schließen ist. Arbeitszeitmodelle mit weitgehender Autonomie der ArbeitnehmerInnen kommen daher meiner Ansicht nach durch das Urteil nicht unmittelbar unter Druck, solange die objektive, verlässliche und zugängliche Dokumentation gewährleistet ist.
Viele Experten sehen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Arbeit und Freizeit – etwa, wenn ein Wissenschaftler nachdenkt. Wie lässt sich da eine Trennlinie ziehen?
Die Entgrenzung der Arbeitszeit ist, gerade in Zeiten von E-Mail und Smartphone, ein großes Thema. Das Problem des Wissenschafters/der Wissenschafterin, der/die auch außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit über Lösungen nachdenkt, bestand natürlich schon vorher – und war natürlich nicht nur auf diese Gruppe beschränkt. Auch haben sich ArbeitnehmerInnen immer schon auch nach der Arbeit getroffen und dabei oft auch über arbeitsbezogene Themen gesprochen – ohne dies jemals als Arbeitszeit zu schreiben. Heute wird aber nicht nur nachgedacht. Es werden auch E-Mails gelesen, Kurznachrichten geschrieben, am Social-Media-Account des Arbeitgebers gepostet und vieles mehr. Auch die Erreichbarkeit ist durch Mobiltelefone wesentlich erleichtert worden.
Eine klare Trennlinie ist sicherlich schwer zu ziehen. Natürlich sind gewisse gesetzliche Regelungen und Klarstellungen möglich und sinnvoll – wie etwa Klarstellungen, dass Anrufe des Arbeitgebers außerhalb der normalen Arbeitszeit selbstverständlich auch zur Arbeitszeit zählen. Viel wichtiger ist aber die Bewusstseinsarbeit. Sowohl die ArbeitnehmerInnen als auch die Arbeitgeber müssen in einem viel größeren Maß erkennen, dass die heutigen technischen Möglichkeiten einen viel bewussteren Umgang mit der Ressource Zeit notwendig machen. Gesetzliche Regelungen können hier natürlich unterstützend wirken, da sie ein gesellschaftliches Wertebild wiedergeben.
Im Gespräch sind nun auch Apps zur Arbeitszeiterfassung. Wie sollten Mitarbeiter vor umfassender Überwachung geschützt werden?
Apps zur Arbeitszeiterfassung sind nicht per se ein Problem, solange diese den ArbeitnehmerInnen die Dokumentation der Arbeitszeit erleichtern. Problematisch sind Systeme, die, vom Arbeitnehmer/der Arbeitnehmerin unbeeinflussbar, Zeit und Ort dokumentieren. Diese führen zu einer Kontrolldichte, die ein Klima der Überwachung schaffen. Daher sieht die Rechtslage in Österreich hier auch eine weitgehende Mitsprache des Betriebsrats vor.
Meiner Ansicht nach ist das EuGH-Urteil auch nicht dahingehend auszulegen, dass Arbeitgeber Systeme einzurichten haben, die auf eine umfassende Überwachung hinauslaufen. Die vom EuGH getroffenen Feststellungen sind vor allem in dem Lichte zu sehen, dass im vorgelegten Fall gar keine Verpflichtungen zur Arbeitszeitdokumentation sondern nur zur Dokumentation der Überstunden bestanden haben.