Menue-Button
← FACHDEBATTE Interview

Funktionalität statt Barrierefreiheit

Warum Software nicht automatisch für alle Nutzer programmiert wird und was dafür zu tun wäre

Prof. Dr. Monika Maria Möhring, Geschäftsführende Direktorin Zentrum für blinde und sehbehinderte Studierende (BliZ) Quelle: Privat Prof. Dr. Monika Maria Möhring Geschäftsführende Direktorin TH Mittelhessen, Zentrum für blinde und sehbehinderte Studierende (BliZ) 21.03.2022
INITIATOR DIESER FACHDEBATTE
Uwe Rempe
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info
ZUR FACHDEBATTE

In der Regel steht heute bei der Entwicklung von Software "die Funktionalität im Vordergrund", Barrierefreiheit bei der Anwendung ist allenfalls ein mehr oder weniger erwünschter Nebeneffekt, kritisiert Prof. Dr. Monika Maria Möhring, Geschäftsführende Direktorin des Zentrums für blinde und sehbehinderte Studierende (BliZ) an der TH Mittelhessen. Sie legt aber auch dar, wie mehr Inklusion zu erreichen ist.







Wie verläuft im Allgemeinen die Entwicklung von digitalen Anwendungen?
Digitale Anwendungen vollführen vielfältige standardisierte Transaktionen und Berechnungen. Kein Stück Software wird heutzutage noch von Grund auf programmiert. Man nutzt ein bestehendes Rahmenwerk von Herstellern wie Microsoft oder Oracle oder, typischer, eine bestehende Standardanwendung wie SAP oder IBM. Programmierer und IT-Berater passen diese Anwendungen an die Bedürfnisse eines Unternehmens an. Wenn ein sehr großer Konzern eine solche Software für viele Millionen Euro einsetzen will, wird auch schon einmal die Basissoftware erweitert, um spezielle Funktionen erfüllen zu können. Kleinere Organisationen und in der Regel auch öffentliche Einrichtungen müssen mit den bestehenden Basistechnologien auskommen.

JETZT HERUNTERLADEN

DIE DOKUMENTATION DIESER FACHDEBATTE

DIE DOKUMENTATION ENTHÄLT

alle Debattenbeiträge ungekürzt im Original
Übersicht aller aktiven Debattenteilnehmer
Summary für Ihr Top-Management
MEHR ERFAHREN


Inwiefern spielt Barrierefreiheit in diesem Prozess schon eine Rolle und wer außer den Entwicklern testet die Entwicklungsergebnisse bis zum Punkt der Marktreife?
Neuere Ausgaben von Standardsoftware beinhalten jeweils „Barrierefreiheits“-Modi. Bei diesen handelt es sich um freiwillige oder von Großkunden gewünschte Einstellungen für größere Schrift, Bedienung über Tasten, Vorlesefunktion und Kontrasterhöhung. Getestet wird in der Regel in den Testcentern der Softwarehersteller sowie von ausgewählten Alpha-und Betatestern in Kundenorganisationen. Im Vordergrund steht hierbei jedoch erfahrungsgemäß die Funktionalität und weniger die Barrierefreiheit einer Anwendung.

Wie verhindert man von Vornherein durch strukturelle Anpassungen im Entwicklungsprozess den Ausschluss von potenziellen Nutzergruppen?
Im Moment kann dies bei komplexerer Standardsoftware nicht verhindert werden. Man müsste als Nutzerfirma die entsprechenden Applikationen von Grund auf programmieren, zum Beispiel mit Rahmenwerken, die eine Reihe von barrierefreien Möglichkeiten bieten. Gleichzeitig müssten Nutzer dieser Software beispielsweise Bildbeschreibungen anfertigen. So wird auch die Pflege von Applikationen aufwändiger. Außerdem müsste jede einzelne Schnittstelle programmiert oder konfiguriert werden, was bei Standardsoftware oft entfällt. Letztlich wäre eine Eigenprogrammierung aller Standardfunktionalitäten übermäßig teuer, ein Aufwand, der für wenige körperlich Eingeschränkte erfahrungsgemäß nicht betrieben wird.

Sind die rechtlichen Vorgaben zur digitalen Barrierefreiheit ausreichend oder muss die Politik hier mehr tun?
Die gesetzlichen Vorgaben der EU zur Barrierefreiheit schreiben einen strengen Prüfkatalog mit 96 Kriterien für IT-Programme vor. Leider sind diese Vorgaben bis 2030 nur auf öffentliche Einrichtungen beschränkt und aufgrund deren geringer Marktmacht mithin nicht ausreichend. Ein Nachbessern durch IT-Berater, die diese Standardsoftware konfigurieren, kann diesen Nachteil erfahrungsgemäß nicht annähernd kompensieren. So entsteht die paradoxe derzeitige Situation, dass zum Beispiel Hochschulen die geforderte barrierefreie Verwaltungssoftware allein theoretisch nicht bereitstellen können, sondern auf möglichst große „Barrierearmut“ testen. In der Regel arbeiten zum Beispiel stark Seheingeschränkte daher selbst in öffentlichen Organisationen nach wie vor mit persönlichen Arbeitsplatzassistenzen, die Inhalte gegebenenfalls vorlesen oder bearbeiten.

Strukturelle Anpassungen sind nur längerfristig möglich, durch entsprechende Gesetze in der EU und weiteren großen Staaten, die auch für Unternehmenssoftware bindend wäre. Als Vorbild könnte die Sarbanes-Oxley/EuroSOX-Direktiven gelten, welche nach größeren Firmenskandalen wie Enron vorschrieben, Finanzsoftware für größere Unternehmen ab einem Stichtag manipulationssicher zu machen. Diese Anordnung sowie die Androhung hoher Strafen haben selbst Softwareunternehmen mit Quasi-Monopolstellung sehr schnell dazu bewegt, revisionssichere Finanzsoftware zu entwickeln und zertifizieren zu lassen.

Übrigens: Durch das große Engagement von Bildungseinrichtungen ist eine inklusive Lehre mittlerweile möglich geworden. Jedoch ist zu beobachten, dass Arbeitgeber, selbst der öffentlichen Hand, bei der Beschäftigung körperlich Eingeschränkter oft äußerst zurückhaltend agieren. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass man sich aufgrund der technologischen Rahmenbedingungen nicht in der Lage sieht, diese Arbeitnehmer komplett in die Betriebsprozesse zu integrieren. Dies gilt selbst für behinderte Einser-Absolventen in höchst gefragten Berufen wie Informatiker oder Ingenieure. Gerade im Zuge der Digitalisierung sind viele neue Möglichkeiten für behinderte Schulabgänger und Fachkräfte entstanden. Es wäre nur zeitgemäß, den beruflichen Inklusionsprozess per entsprechender Gesetzeslage schnellstmöglich voranzutreiben.

UNSER NEWSLETTER

Newsletter bestellen JETZT BESTELLEN

■■■ WEITERE BEITRÄGE DIESER FACHDEBATTE

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Richard J. Powers
Mediendidaktiker und Lerndesigner
Universität Stuttgart

Richard J. Powers, Mediendidaktiker und Lerndesigner, Universität Stuttgart
Softwareentwicklung | Inklusion

Digitale Zugänglichkeit muss ein Teil ■ ■ ■

Wie die Uhr bis zum Europäischen ■ ■ ■

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Richard J. Powers
Mediendidaktiker und Lerndesigner
Universität Stuttgart

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Prof. Dr. Erdmuthe Meyer zu Bexten
Landesbeauftragte für barrierefreie IT
Land Hessen

Prof. Dr. Erdmuthe Meyer zu Bexten, Landesbeauftragte für barrierefreie IT des Landes Hessen
Softwareentwicklung | Inklusion

Kluge IT-Design-Prinzipien bringen ■ ■ ■

Warum Inklusion unwiderruflicher Teil des ■ ■ ■

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Prof. Dr. Erdmuthe Meyer zu Bexten
Landesbeauftragte für barrierefreie IT
Land Hessen

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Christina Marx
Leiterin Aufklärung und Kommunikation
Aktion Mensch

Christina Marx, Leiterin Aufklärung und Kommunikation der Aktion Mensch
Softwareentwicklung | Inklusion

Rechtliche Vorgaben zur digitalen ■ ■ ■

Zu spät, zu uneinheitlich, zu lasch: Viel Kritik ■ ■ ■

EIN DEBATTENBEITRAG VON
Christina Marx
Leiterin Aufklärung und Kommunikation
Aktion Mensch

ZUR FACHDEBATTE

ÜBER UNSERE FACHDEBATTEN

Meinungsbarometer.info ist die Plattform für Fachdebatten in der digitalen Welt. Unsere Fachdebatten vernetzen Meinungen, Wissen & Köpfe und richten sich an Entscheider auf allen Fach- und Führungsebenen. Unsere Fachdebatten vereinen die hellsten Köpfe, die sich in herausragender Weise mit den drängendsten Fragen unserer Zeit auseinandersetzen.

überparteilich, branchenübergreifend, interdisziplinär

Unsere Fachdebatten fördern Wissensaustausch, Meinungsbildung sowie Entscheidungsfindung in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Gesellschaft. Sie stehen für neue Erkenntnisse aus unterschiedlichen Perspektiven. Mit unseren Fachdebatten wollen wir den respektvollen Austausch von Argumenten auf Augenhöhe ermöglichen - faktenbasiert, in gegenseitiger Wertschätzung und ohne Ausklammerung kontroverser Meinungen.

kompetent, konstruktiv, reichweitenstark

Bei uns debattieren Spitzenpolitiker aus ganz Europa, Führungskräfte der Wirtschaft, namhafte Wissenschaftler, Top-Entscheider der Medienbranche, Vordenker aus allen gesellschaftlichen Bereichen sowie internationale und nationale Fachjournalisten. Wir haben bereits mehr als 600 Fachdebatten mit über 20 Millionen Teilnahmen online abgewickelt.

nachhaltig und budgetschonend

Mit unseren Fachdebatten setzen wir auf Nachhaltigkeit. Unsere Fachdebatten schonen nicht nur Umwelt und Klima, sondern auch das eigene Budget. Sie helfen, aufwendige Veranstaltungen und überflüssige Geschäftsreisen zu reduzieren – und trotzdem die angestrebten Kommunikationsziele zu erreichen.

mehr als nur ein Tweet

Unsere Fachdebatten sind mehr als nur ein flüchtiger Tweet, ein oberflächlicher Post oder ein eifriger Klick auf den Gefällt-mir-Button. Im Zeitalter von X (ehemals Twitter), Facebook & Co. und der zunehmenden Verkürzung, Verkümmerung und Verrohung von Sprache wollen wir ein Zeichen setzen für die Entwicklung einer neuen Debattenkultur im Internet. Wir wollen das gesamte Potential von Sprache nutzen, verständlich und respektvoll miteinander zu kommunizieren.